© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Ländersache: Niedersachsen
Berühmt durch ihre Würste und Viren
Christian Vollradt

Mit Beginn dieser Woche ist in Niedersachsen die vierte von fünf Lockerungsstufen in Kraft getreten. Vor allem Gastronomen und die Tourismuswirtschaft zwischen Nordsee und Harz können nun wieder etwas aufatmen. Busreisen sind wieder erlaubt, Schwimm-, Hallen- und Spaßbäder dürfen wieder öffnen, Hotels, Jugendherbergen und Campingplätze dürfen ihre Betten oder Stellplätze jetzt bis zu 80 Prozent belegen, und Kulturveranstaltungen im Freien mit bis zu 250 Teilnehmern sind nun erlaubt. Aber: „Alles, was erlaubt ist, ist unter Auflagen erlaubt“, betonte die stellvertretende Leiterin des Krisenstabs der rot-schwarzen Landesregierung, Claudia Schröder.

Während das Land also wieder langsam etwas mehr Normalität anpeilt, steuert Göttingen in die entgegengesetzte Richtung. Die Universitätsstadt im Süden Niedersachsens ist seit der vergangenen Woche im Fokus der Corona-Berichterstattung. Ein besonderer Medienauflauf herrschte dieser Tage vor einem 17stöckigen Hochhaus am Rande der Innenstadt. In dem Gebäudekomplex wohnen mehrere „Großfamilien aus dem früheren Jugoslawien“, so die offizielle Lesart, die beim Feiern des Zuckerfestes zum Ausklang des islamischen Fastenmonats Ramadan Ende Mai gegen die Hygiene- und Abstandsregeln verstoßen haben sollen. 

Die Verantwortlichen der Stadt sehen darin die Hauptursache für die Zahl der Neuinfektionen in Göttingen. Sie näherten sich zu Wochenbeginn dem kritischen Grenzwert: Werden 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen erreicht, müssen die Corona-Regeln verschärft werden. In der Stadt an der Leine blieben daraufhin in dieser Woche die Schulen sowie zwei Kindertagesstätten geschlossen. Von einer „dramatischen Entwicklung“ spricht man im Krisenstab, ein „totaler Lockdown“ sei nicht ausgeschlossen.

In der Stadt reagieren viele verärgert über den Rückfall. In privaten Gesprächen werden dann auch die „Großfamilien“ als Roma aus dem Kosovo bezeichnet und das Haus, in dem es gehäuft zu den Neuinfektionen kam, als Problemfall benannt. Gebaut wurde das „Iduna-Zentrum“ zunächst, damit zu Beginn des Zeitalters der Massenuniversität die angehenden Akademiker günstig in direkter Nähe des neuerrichteten Campus wohnen können. Doch mit der Zeit und insbesondere, als in den neunziger Jahren die Studentenzahlen massiv zurückgingen, änderte sich die Zusammensetzung der Bewohner dort. Die Infrastruktur wie Fahrstühle oder Müllschlucker verkam zusehends. 

Die Offiziellen in Politik und Verwaltung warnen unterdessen davor, daß vom Volkszorn ein „erkennbarer Schuldiger“ ausgerufen werde. „Es ist nicht eine bestimmte Nation, nicht eine bestimmte Glaubensgemeinschaft, die hier gegen Regeln verstößt, sondern es sind Einzelpersonen“, sagte Göttingens Sozialdezernentin Petra Broistedt (SPD). Es sei wichtig, in diesem Zusammenhang nicht einzelne zu diskriminieren oder zu stigmatisieren. Man brauche statt dessen Solidarität. Die gemeldeten 600, tatsächlich eher 700 Bewohner des Hochhauses werden nun alle getestet. Nachdem es anfangs mit der Kooperationsbereitschaft einiger Betroffener nicht weit her war und die Stadt drohte, notfalls die Polizei zu Hilfe zu nehmen, sollen die Tests inzwischen „problemlos“ verlaufen.