© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Mit Leidenschaft und Augenmaß
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – eine Fakultät in einer Person: Zum 100. Todestag des großen Gelehrten Max Weber
Wolfgang Müller

Als das Deutsche Reich im Frühjahr 1919 vor den Versailler Friedensbedingungen stand, so berichtet sein lebenslänglicher Bewunderer Karl Jaspers, habe Max Weber in einer Massenversammlung Münchner Studenten die katastrophale Lage der Nation aufgezeigt. Die Weltmacht sei verloren, Deutschland werde jede nur mögliche Demütigung bis zum Schuldbekenntnis zugemutet, die es akzeptieren müsse. In der gegenwärtigen Ohnmacht sei nichts anderes zu erreichen. Nur die Ehre könne gerettet werden und aus dem Samen heroischen Untergangs vielleicht eine neue Zukunft erwachsen. 

Max Weber, der angesichts der militärisch-ökonomischen Übermacht der westlichen Sieger für ein Sich-Fügen ins Unabänderliche plädierte, schien damit persönlich eine seiner berühmtesten Sentenzen zu beglaubigen: „Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ („Politik als Beruf“, 1919).

Doch der am 21. April 1864 in Erfurt geborene, später alle Grenzen der Disziplinen sprengende Jurist, Nationalökonom, Soziologe, „eine Fakultät in einer Person, einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts“ (Henning Ottmann), gehörte zu den Theoretikern, die den eigenen Maßgaben lebenspraktisch nicht immer genügten. Daher, so fährt Jaspers fort, überwältigte den Redner, „mitten in sachlichen Ausführungen“, sein cholerisches Temperament und „mit umgreifenden Armbewegungen“ habe er die Möglichkeit einer Ablehnung des Versailler Friedensdiktats und die sichere Folge einer alliierten Besetzung des Reiches an die Wand gemalt. Um dann zu drohen, auch aus der Ohnmacht heraus lasse sich ein Verzweiflungskampf organisieren, und „den ersten Polen, der es wagt, Danzig zu betreten, trifft die Kugel“.

Max Weber, der enthemmte Nationalist, der, mitwirkend an der Weimarer Verfassung, dort die plebiszitär abgesicherte Autorität des Reichspräsidenten zu Lasten des Parlaments verankern half, ein mit beinahe diktatorischen Befugnissen ausgestattetes Amt, das mit dem charismatischen Gelehrten nach Jaspers’ Urteil seine Idealbesetzung gefunden hätte. Derart scharfkantig als „Erzieher zur Deutschheit“ (Fichte) präsentiert ihn der heftig mit ihm sympathisierende linksliberale Philosoph Karl Jaspers 1932 in den „Schriften an die Nation“ des konservativ-revolutionären Oldenburger Stalling-Verlags.

Dieses Porträt ähnelt so gar nicht jener intellektuellen Galionsfigur der Bonner Republik, jenem Max Weber des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, dessen Werk nach den aus den USA (Talcott Parsons, Reinhard Bendix) re-importierten, von den Soziologen Jürgen Habermas, Wolfgang Schluchter und ihren Folgern ausgewalzten Deutungsmustern ihn als Liberalen, Demokraten und Kritiker des wilhelminischen Machtstaates ausweisen sollten, der den Bundesdeutschen auf ihrem 1945 eingeschlagenen „Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) voranmarschiert sei. 

Max Weber, der am 14. Juni 1920 vermutlich als spätes Opfer der damals schon abklingenden Spanischen Grippe starb, war kein lupenreiner Demokrat, erst recht kein Liberaler. Den Kultus der Menschenrechte betrachtete er, der die Rassenprobleme der USA 1904 an Ort und Stelle studierte und der Rasse für ein akzeptables, methodisch indes noch nicht hinreichend ausgefeiltes sozialwissenschaftliches Deutungsmodell hielt, sehr distanziert als Erbe angloamerikanischen Sektenwesens und seiner „extrem rationalistischen Fanatismen“. Sozialistische Zukunftsvisionen vom „klassenlosen Paradies der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung“ (Ernst Bloch) verachtete er genauso wie pazifistische Fabeleien von „Kindern und Narren“ über Völkerbund und Weltfrieden. Und gegen Wilhelm II. richteten sich, modern formuliert, „Haß und Hetze“ seiner sich während des Ersten Weltkriegs zur rhetorischen Raserei steigernden Pamphlete nicht, weil der Kaiser um der nationalen Selbstbehauptung willen Machtpolitik trieb, sondern weil er dabei von Anfang an versagte. Um solche „illiberalen“, heute umstandslos platt als „rechtsradikal“ identifizierte Positionen zu verstehen, empfiehlt sich ein biographischer Blick zurück, der auch nochmals gen Osten schweift.

Als Weber auf der studentischen Anti-Versailles-Kundgebung Danzig zum potentiellen Brennpunkt des nationalen Widerstands erkor, war das kein Zufall. Mit der Hauptstadt Westpreußens, auf das die Vertreter der soeben aus der Taufe gehobenen Republik Polen in Versailles einen weder ethnisch noch historisch oder kulturell legitimierbaren Anspruch erhoben, verbanden sich für ihn nicht nur persönliche Reminiszenzen. Obwohl die für die Stimmung des Redners nicht zu unterschätzen sind. Immerhin hatte sein jüngerer Bruder, Karl Weber, gefallen 1915 an der Ostfront, von 1907 bis 1913 als Professor für das „Entwerfen in den Formen des Mittelalters“ an der Technischen Universität Danzig gelehrt und als Architekt des majestätischen Zoppoter Kurhauses wie als Denkmalspfleger in der Altstadt, das rekonstruierte Gesicht des „Venedigs an der Ostsee“ maßgeblich mitgestaltet. Schwerer fiel allerdings ins Gewicht, daß Webers akademische Anfänge mit der wilhelminischen Nationalitäten-Politik in Westpreußen und vor allem in der Nachbarprovinz Posen auf engste verknüpft sind.

Am 2. Mai 1895 hielt er als frisch nach Freiburg berufener Professor seine Antrittsvorlesung zum Thema „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“, die sich am Beispiel des deutsch-polnischen Konflikts in den preußischen Ostprovinzen der Frage widmet, welche Rolle die „physischen und psychischen Rassendifferenzen zwischen Nationalitäten im ökonomischen Kampf ums Dasein“ spielen.

Die Antwort lautet, daß Bedürfnislosigkeit, niedriger Kulturstand und Geburtenfreudigkeit der polnischen Minderheit allmählich zur Verdrängung der Deutschen führen müsse. Gefördert werde diese Expansion ausgerechnet durch die Führungsschicht der „Junker“, der Gutsbesitzer, die dadurch, daß sie billigere polnische Arbeitskräfte beschäftige, die Landflucht der ostdeutschen Agrarbevölkerung forciere. Damit, so klagt Weber an, erweise sich eine ökonomisch sinkende, aber politisch dominante Klasse als sozial schädlich. Wer die Staatsmacht in den Dienst seiner Standesinteressen stelle, indem er die Polenpolitik in die falsche Richtung steuere und die Exportinteressen einer aufsteigenden Industrienation durch eigensüchtige agrarische Autarkiepolitik ausbremse, der disqualifiziere sich als Herrschaftselite, da diese stets eine für das Ganze verantwortliche Politik treiben müsse, wolle sie ein Gemeinwesen nicht in den Abgrund stoßen. Eine Einsicht, die in Zeiten, in denen das Kapital seinen Profit mittels Masseneinwanderung mehrt und kosmopolitische Anywhere-Eliten Völker und Kulturen „experimentierend“ auf den Aussterbetat setzen, aktueller ist denn je.

Für Weber sind die das Gemeinwohl ignorierenden Junker im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus ein Hemmschuh bei der Modernisierung des politischen Systems, das es fit zu machen gelte für Wettbewerbskampf auf dem Weltmarkt. Dieser Kampf ist für Weber alternativlos: „Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.“ Dazu benötige man ein stabiles, weil breites Fundament im Innern, was ohne die Integration der Arbeiterschaft nicht zu schaffen sei. Also müsse das ungerechte preußische Dreiklassenwahlrecht verschwinden, das den Klassenkampf perpetuiere. Innere Zerrissenheit störe die imperialistische Machtentfaltung. Zugleich sollten die Rechte des Reichstags ausgeweitet, die Ministerverantwortlichkeit eingeführt werden, nicht zuletzt, weil dies, wie der sonst auf seinen Realismus pochende Weber etwas blauäugig meint, eine effiziente Führungsauslese gewährleiste, und das Talent-reservoir von Bürgertum und Arbeiterschaft sich voll ausschöpfen lasse.

Ist Max Weber, für den der Nationalstaat die höchste, da menschenwürdigste politische Organisationsform und für den der Kampf der Nationen um wirtschaftliche Lebensmöglichkeiten eine unaufhebbare Urtatsache sind, deswegen nur einer von vielen Apologeten des „weißen“ Imperialismus und Kolonialismus? Einer, der sich von westeuropäischen und nordamerikanischen Ideologen nur dadurch unterschied, daß er den noch im Semiabsolutismus steckenden Deutschen den größten Vorzug der Demokratie erst predigen mußte, „die geeignetste Form für die imperialistische Expansion einer modernen Großmacht“ zu sein, wie der Weber-Schüler Georg Lukács behauptet? Oder überragt er den intellektuellen Durchschnitt der „Gelehrtenpolitiker“ seiner Zeit lediglich deswegen, weil der Polyhistor das alle Lebensbereiche rationalisierende, normierende, verdinglichende, die Welt ins „Gehäuse der Hörigkeit“ verwandelnde Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung tiefer erfaßte als jeder Zeitgenosse? Und der illusionsloser als die Heerscharen kommunistischer, faschistischer und demokratisch-liberaler  Heilsapostel, die nach dem von Friedrich Nietzsche ausgerufenen Tod Gottes mit weltanschaulichen Synthesen ersatzreligiöse Einheitskulturen stiften wollten,  die Unverzichtbarkeit des Status quo dieser „entzauberten Welt“ proklamierte.  

Wozu dann noch das Festhalten am Nationalstaat, wenn der gesamte bürokratisch rationalisierte, Mensch und Natur schonungslos vernutzende planetarische „Betrieb“ unentrinnbar auf das totalitäre Vorbild des altägyptischen Fellachen-Staates zulaufe? Weil Max Weber denn doch nicht der noble Nihilist war, der angesichts der heraufziehenden „Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“ allein eine politisch perspektivlose stoische Ethik tapferen Standhaltens anzubieten wußte. 

Die „Zukunft der Erde“ sollte nicht „angelsächsischer Konvention und russischer Bürokratie“, Amerikanismus und Bolschewismus, überlassen bleiben. Bei der „Gestaltung der Kultur der Erde“ müßten vielmehr die Deutschen, „das erste Bildungsvolk der Welt“, wie er 1916 noch glauben durfte, mitsprechen. Den Weltstaat, der jede persönliche Freiheit, für die der Nationalstaat der Garant sei, aufhebe, aufzuhalten, das sei die historische Mission der Deutschen. Darum hätten sie die Pflicht, Machtstaat zu sein und den Welteroberungsmächten des Ostens und Westens zu trotzen.    

Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Nikol, Hamburg 2018, gebunden, 240 Seiten, 6 Euro

Max Weber: Politik als Beruf. Nikol, Hamburg 2019, gebunden, 96 Seiten, 3,95 Euro