© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Nostalgien sind wirkungslos
Wer ist rechts? Der Kampf um Identität und die populare Position / Teil II der JF-Serie
Karlheinz Weißmann

Als John Cleese, einst Kopf der berühmten Komikertruppe Monty Python, im Zusammenhang mit dem Brexit die Auffassung äußerte, daß London „keine englische Stadt“ mehr sei, schlug ihm eine Welle der Empörung entgegen. Es half Cleese auch nicht, daß er betonte, es gehe ihm lediglich darum, daß er die Stadt einst „ruhiger, höflicher, humorvoller, weniger tabloid und weniger geldfixiert“ gefunden habe. Denn allseits hegte man den Verdacht, daß er, wenn kein „Rassist“, dann doch ein Heuchler sei, und von dem Londoner Oberbürgermeister Sadiq Khan mußte sich Cleese die Belehrung gefallen lassen, daß die „Diversität“ der Bevölkerung Londons „größte Stärke“ sei.

Abgesehen von der Prominenz der Akteure hat der Verlauf dieser Auseinandersetzung etwas Typisches. Hier diejenigen, die ihr Unbehagen an einer immer bunteren Nachbarschaft und der Propaganda für Globalisierung und Grenzenlosigkeit äußern. Dort diejenigen, die die Überlegenheit von Heterogenität und Kosmopolitismus und Barrierefreiheit verkünden. Erstere treten bisher leicht verzagt, letztere sehr selbstbewußt auf. Das erklärt sich immer noch aus einer Zukunftserwartung, die der Kollaps des Sowjetsystems in Mode gebracht hat. Denn nach 1989 schien es, als ob das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) und der Triumph der „feindlosen Demokratie“ (Ulrich Beck) der Weltgesellschaft und der Weltregierung den Weg bereiteten. Angesichts dessen erschienen altmodische Sicherungen, die auf Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt setzten, nur mehr als Hindernisse auf dem Marsch in ein besseres Morgen.

Es geht um die Klärung der Frage, wer „wir “sind

Aber schon bevor sich diese Einschätzung als fataler Irrtum erwies, gab es Anzeichen einer „globalen Identitätskrise“. Den Begriff prägte Samuel Huntington, der damit einen Vorgang charakterisierte, der zuerst die USA erfaßte, aber nach und nach auf alle modernen Industriestaaten übergriff. Für Huntington zerstörte die politische und wirtschaftliche Entwicklung, die seit dem Endsieg des Westens eingeleitet wurde, jene Art von Kollektivstolz, der bis dahin die Bürger verbunden hatte. Er benannte ideologische Ursachen, die vor allem auf den Einfluß der oikophoben Linken, die das Eigene hassen, zurückzuführen seien. Aber wichtiger erschien ihm, daß die Führungsschicht nach und nach alles aufgab, was die Väter gebunden hatte. In ihren Kreisen gebe der „Davos-man“ den Ton an, der sich als Teil einer kosmopolitischen Elite verstehe, die eigene Bindungslosigkeit als Vorzug betrachte und Loyalität, wenn überhaupt, dann nur gegenüber der eigenen Klasse oder dem eigenen Arbeitgeber oder der community empfinde, die denselben spirit teile.

Als Huntington seine Analyse zu Beginn des 21. Jahrhunderts vortrug, war noch nicht absehbar, daß die „globale Identitätskrise“ eine Gegenbewegung von erheblicher Durchschlagskraft entfesseln würde. Sie wird gewöhnlich als „Populismus“ bezeichnet und mag sich hier gegen die Verlagerung von Arbeitsplätzen, da gegen den Mißbrauch der Sozialfürsorge, hier gegen die Korruption der Beamten, da gegen den Verfall der inneren Sicherheit, hier gegen das Überborden der Politischen Korrektheit, da gegen die Zerstörung lokaler Bräuche, hier gegen den Moscheebau und da gegen die ungeregelte Migration wenden.

Im Kern geht es aber immer um ein Thema: Identität. Nicht um Identität im Sinne jenes Gesellschaftsspiels, das uns angeblich die Chance eröffnet, ein Geschlecht frei zu wählen und uns täglich anders zu erfinden, sondern um Identität im existentiellen Sinn: Klärung der Frage, wer „ich“ bin, und wer „wir“ sind. In dem Maße, in dem die Politische Klasse eine Antwort zu vermeiden und glauben zu machen sucht, daß der Marsch in eine offene, multikulturelle Menschheitsrepublik oder einen technokratischen Superstaat alternativlos sei, versteift sich der Widerstand, wird die populistische Befreiungsrhetorik plausibler.

Unter den Etablierten gibt es nur wenige, die diesen Zusammenhang begreifen. Eine Feststellung wie die des französischen Sozialisten Jean-Pierre Chevènement – „Ihr nennt das Populismus, ich nenne das eine Reaktion des Volkes“ – ist die Ausnahme. In der Regel stellt man den eigenen „Antifaschismus“ dem neuen „Faschismus“, die gute „liberale Demokratie“ der bösen „illiberalen“ gegenüber. Damit wird aber nur von der Tatsache abgelenkt, daß es im Kern um eine Konfrontation geht, die solche Klischees nicht erfassen können: die zwischen „Entwurzelten“ und „Verwurzelten“.

Der Populismus als organisierter Widerstand gegen die Entwurzelung weist etwas wie eine natürliche Drift nach rechts auf. Linkspopulismen sind Ablenkungsmanöver, während Rechtspopulismen auf Probleme reagieren, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Das erklärt, warum sie sich bei aller Unzulänglichkeit des Führungspersonals und trotz aller taktischen Fehler immer wieder erneuern. Für den britischen Publizisten David Goodhart markieren sie deshalb einen der beiden Pole, an denen das politische Kraftfeld zukünftig ausgerichtet wird: hier die somewheres – der „Stamm“ der Patrioten – da die anywheres – der „Stamm“ Antipatrioten. Goodhart rechnet mit einem weiteren Erstarken des Populismus, da er, wie naiv auch immer, an traditionelle Werte anknüpft, die schon als erledigt galten, aber im Kampf um Identität als knappe Ressource erbittert verteidigt werden: die Nation, die Heimat, die Familie, sogar die Religion.

Bezug auf die politische Romantik wirkt blockierend

Der Populismus ist in hohem Maß eine Bewegung von unten. Das bedeutet Stärke und Schwäche zugleich. Stärke insofern, als er für viele seiner Forderungen auf spontane Zustimmung rechnen kann. Schwäche insofern, als ihm eine rousseauistische Tendenz innewohnt. Seine Anhänger sind überzeugt, den Gemeinwillen zu verkörpern und wollen den ungeschmälert durchgesetzt sehen.

Dieses Nebeneinander ist in Deutschland noch besonders deutlich erkennbar, da hier populistische Strömungen verhältnismäßig spät aufgetreten und in einer Partei zusammengefaßt worden sind. Die AfD tut sich entsprechend schwer, jene Verstetigung ihrer Strukturen und jene Normalisierung ihres Erscheinungsbildes zu erreichen, die notwendig sind, um am Tagesgeschäft teilzunehmen, und gleichzeitig das Mißtrauen der Basis zu beschwichtigen, die dauernd den Verdacht hegt, man wolle sich den Gepflogenheiten des Establishments anpassen.

Daß es notwendig ist, das Spannungsverhältnis wenn nicht aufzulösen, dann doch zu mildern, hat das Schicksal der Formationen gezeigt, die unbedingt den radikaldemokratischen Charakter ihrer Gründungsphase festhalten wollten. Sie kamen zwar zu imponierenden Anfangserfolgen, überstanden aber den politischen Konkurrenzkampf nicht. Nur diejenigen Parteien, denen es wie dem Rassemblement National oder der Dänischen Volkspartei oder der ungarischen Fidesz gelang, eigene Führungskader aufzubauen, die den Kontakt zur Basis halten, aber Handlungsfreiheit besitzen, dürfen darauf rechnen, tatsächlich Einfluß zu gewinnen.

Man könnte in diesen Fällen vom Übergang einer populistischen zu einer popularen Richtung sprechen. Ein Schritt, der in Deutschland bisher nicht vollzogen wurde, auch weil es im intellektuellen Umfeld der AfD einflußreiche Stimmen gibt, die ihn unbedingt verhindern wollen. Ihnen geht es darum, den Bewegungscharakter zu erhalten. Institutionalisierung erscheint in dieser Perspektive als Verrat an der „Sache des Volkes“ (Götz Kubitschek). Dahinter stehen Gemeinschafts- und Ganzheitsvorstellungen, die voraussetzen, daß es Zeiten gab, in denen ein nicht „fragmentierter“, sondern „einheitlicher Volkswille“ (Björn Höcke) zur Geltung kam.

Unter den gegebenen Umständen wirken solche Bezugnahmen auf die politische Romantik aber blockierend. Was auch das regelmäßige Scheitern aller Ansätze erklärt, die auf Aktivismus setzen; ganz gleich, ob es dabei um die „gezielte Regelverletzung“ nach dem Muster der Achtundsechziger oder das Rollenmodell von Greenpeace geht. Nostalgien, die zwischen 48er Pathos und Revolutionsfaschismus schwanken, sind genauso zur Wirkungslosigkeit verdammt wie die Vorschläge, nicht nach rechts, sondern nach links abzubiegen, indem man die „Klassenbasis“ (Benedikt Kaiser) zum ausschlaggebenden Faktor erklärt und die soziale Agitation der Unterschichten fordert.

Es bleibt in Deutschland eine Leerstelle, da gegenwärtig niemand die populare Position glaubwürdig besetzt. Wie die inhaltlich auszugestalten wäre, hat der Historiker Rolf Peter Sieferle schon unmittelbar nach der Wiedervereinigung umrissen, als er die Legitimität der Globalisierungskritik ausdrücklich anerkannte, aber vor einem unfruchtbaren Rückzug auf Fundamentalopposition und Ressentiment warnte. Gefordert sei, so Sieferle, eine politische Synthese, die Nation und Solidar-Prinzip zusammenbrächte, und vor dem Universalismus nicht ausweiche, sondern in der Lage sei, „eine Denkfigur plausibel zu machen, für die Differenzen kein Skandal, sondern konstitutives Element jeder Wirklichkeit sind“.

Die nächste Folge der Serie „Wer ist rechts?“ erscheint in der JF-Ausgabe 27/20 am 26. Juni.