© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Es herrscht Druck im Kessel
Kirchen: Steigende Austrittszahlen und sinkende Einnahmen sorgen für erhebliche Unruhe
Gernot Facius

Die katholischen Bischöfe in Deutschland hatten über die Jahre Übung darin, die Nachrichten über den kontinuierlichen Anstieg der Kirchenaustrittszahlen geschickt in die allgemeine Urlaubszeit zu plazieren. Doch allmählich ist der Mitgliederverlust so dramatisch, daß sich der Abwärtstrend nicht länger verheimlichen läßt.

Valide Zahlen für 2019 werden voraussichtlich erst im Juli vorliegen, doch nach Informationen des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, ist es im vergangenen Jahr „noch einmal zu einem erheblichen Anstieg“ gekommen. 2018 hatten deutschlandweit 216.000 Katholiken die Kirche verlassen, ein Jahr zuvor waren es 178.000.

Die erwartete neue „Rekordzahl“ ist um so erstaunlicher, als es im vergangenen Jahr keine spektakulären innerkirchlichen Skandale als „Austrittsimpulse“ gegeben hat. Offenbar haben die Mißbrauchs- und Vertuschungskrise in der Vergangenheit sowie die Diskussion über die Kirchensteuer eine Langzeitwirkung entfaltet. Zu einem solchen Schluß kommt jedenfalls der Osnabrücker Kirchenbote nach einer Umfrage bei Standesämtern in der Diözese von Bischof Franz-Josef Bode: „Dabei fällt auf, daß die Zahlen nicht nur insgesamt massiv angestiegen sind, sondern in überwiegend katholisch geprägten Gebieten offenbar noch mal höher liegen.“

Im Kirchenvolk wächst die Kritik

Es sind vor allem Ältere, die die Mißbrauchsfälle als Grund dafür angeben, der Kirche den Rücken zu kehren. Bei Jüngeren ist vor allem die Kirchensteuer der letzte Anstoß, sich zu verabschieden. „Wir wissen, daß die klassische Form des Kirche-Seins an vielen Stellen nicht mehr mit der Lebensrealität der Menschen zusammenpaßt und wir daher manche Menschen nicht mehr erreichen“, hat der Kölner Generalvikar Markus Hofmann im Sommer 2019 zu Protokoll gegeben. Bode hat „Versäumnisse“ im Umgang mit Mißbrauch und Vertuschung eingeräumt, ebenso wie andere Oberhirten. Zurückgetreten ist bislang kein einziger Bischof.

Im Kirchenvolk, vor allem bei engagierten Laien, wächst die Kritik. „Es herrscht Druck im Kessel“, ist von mehreren Seiten zu hören. Zumal immer mehr Menschen sich fragen, ob die Kirche es ihnen wert ist, daß sie ihr Monat für Monat Geld geben. „Das wird sich im Zuge der Corona-Krise mit Sicherheit noch verstärken, gerade in der mittleren Generation“, vermutet Bischof Bätzing. Als Folge dieser Krise rechnet Bätzing für 2020 zudem mit einem „starken Einbruch“ der Einnahmen aus der Kirchensteuer. „Das zwingt schon jetzt zu Haushaltsdisziplin und auf längere Sicht zur Neubewertung geplanter Vorhaben.“ Einige Diözesen seien von „Überschuldung“ bedroht und könnten „nur durch Etatdisziplin und solidarische Maßnahmen zwischen den Bistümern“ gerettet werden.

Das ist die finanzielle Seite des Problems. Haushaltssperren und Einstellungsstopps sind Begriffe, die in den vergangenen Jahren in den durch die Steuereinnahmen verwöhnten Kirchen keine große Rolle spielten. In Corona-Zeiten ist plötzlich vieles anders. Arbeitsplätze brechen weg, berufliche Existenzen stehen vor dem Aus. Damit verringert sich auch das Kirchensteueraufkommen, es geht voraussichtlich um zehn bis fünfzehn Prozent zurück – auch weil viele Selbständige und Kleingewerbetreibende derzeit keine oder weniger Steuervorauszahlungen abführen.

Es entstehen auch Einnahmeverluste durch Schließungen von kirchlichen Bildungs- und Tagungshäusern, Ausfälle von Kollekten und Miet-einnahmen durch Veranstaltungen in Kirchen und Gemeindehäusern. „Ähnlich wie in der Politik gilt nun auch für die Kirche, daß es einen Status ante Corona nicht mehr geben wird“, sagt der Pressesprecher der Bischofskonferenz, Matthias Kopp, und dürfte damit auch die Situation der evangelischen Geschwister im Auge gehabt haben. Nun müsse geprüft werden, von welcher kirchlichen Arbeit man sich verabschieden solle. „Nicht in Panik verfallen, aber allen ist klar, ein Weiter-so wie bisher wird es nicht geben.“

Das gilt für Katholiken wie für Protestanten. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische-Oberlausitz (EKBO) zum Beispiel rechnet mit einem Finanzloch von etwa 40 Millionen Euro allein für dieses Jahr. Es müsse ein „Rettungsschirm in Gottes Namen“ gespannt werden, hieß es im Deutschlandfunk.

Das alles wird nicht genügen, um die Kirchen als „systemrelevante“ gesellschaftliche Größen zu erhalten, sollte es nur beim Thema Finanzen bleiben. Der Hildesheimer katholische Bischof Heiner Wilmer, und er ist nicht einzige, fordert eine „spirituelle Revolution“. Man müsse den Menschen erklären, warum es sich lohne, sich noch mit der Bibel zu beschäftigen. „Wenn wir solche Fragen nicht zulassen, lohnt alle Reform nicht.“

Wilmer war viele Jahre Ordenspriester, ehe er 2018 auf Wunsch von Papst Franziskus Bischof wurde. Er warnt vor einem „Krisen-Perfektionismus“, der blind mache für wirkliche Not. Gerade in der Corona-Krise müsse man fragen: „Was ist eure Relevanz, ihr Kirchen? Wozu braucht man uns Christen überhaupt?“