© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Detalliert durchleuchtet
Kunstbetrieb: Der „Fall Gurlitt“ und seine späten Konsequenzen
Paul Leonhard

Einer der größten deutschen Kunstskandale ist aufgearbeitet. In der Schriftenreihe „Provenire“ ist jetzt der Forschungsbericht zum „Kunstfund Gurlitt. Wege der Forschung“ veröffentlicht. Herausgeber ist das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste Magdeburg (DZGM), das seine Existenz mehr oder weniger einer Hexenjagd verdankt, die Bundesregierung und Medien gegen einen deutschen Kunstsammler betrieben haben, bis dieser 2014 einem Herzleiden erlag.

Die Rede ist von Cornelius Gurlitt (1932–2014). Dieser lebte als unbescholtener Privatmann, bis er 2012 als 79jähriger in das Blickfeld der Staatsanwaltschaft Augsburg geriet. Wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung – bei Gurlitt waren bei einer Zugfahrt an der Schweizer Grenze 9.000 Euro in bar gefunden worden – ließ die Strafverfolgungsbehörde die Münchner Wohnung des als Sonderling geltenden Mannes durchsuchen und beschlagnahmte eine dort entdeckte Kunstsammlung. Zu dieser kamen später noch Kunstwerke aus Gurlitts Haus in Salzburg.

Was die bayerische Justiz – die Zeit schrieb später von einem „Justizskandal“ – geradezu elektrisiert hatte: Gurlitt war der Sohn des renommierten Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt (1895–1956) und dieser wiederum während der NS-Zeit einer der Haupteinkäufer für das geplante Führermuseum in Linz.

Wohl noch nie ist eine private Kunstsammlung im Auftrag der Bundesregierung derart detailliert durchleuchtet worden. Dutzende Provenienzforscher aus Deutschland, Frankreich, Israel und den USA waren jahrelang mit nichts anderem beschäftigt, als die 1.566 beschlagnahmten Positionen zu untersuchen und nach Möglichkeit ihre Herkunft zu ergründen.

Was das gekostet hat, wurde nicht bekannt. Nur das Ergebnis: Danach sind 445 Werke unbedenklich, davon etwa 300 allein deswegen, weil sie der Sammlerfamilie schon vor 1933 gehört hatten oder gar von deren Mitgliedern gefertigt worden waren. Auch wurden einige der Stücke als Fälschungen klassifiziert, so eine allegorische Szene von Marc Chagall und angebliche Grafiken Auguste Rodins. Auch an der Authentizität des Honoré Daumier zugeschriebenen Ölgemäldes „Don Quichote et Sancho Pansa“ bestehen Zweifel.

Überdies ließ sich bei den meisten der beschlagnahmten Kunstwerke, bei mehr als 1.000, die genaue Herkunft nicht ermitteln, was Hildebrand Gurlitt angelastet wird. Dieser habe versucht, „seine Spuren zu verwischen, keineswegs nur, wenn es um jüdisches Eigentum ging, auch aus steuerlichen Aspekten“, so Gilbert Lupfer, DZGM-Vorstand und Leiter des Provenzienzforschungs-, Erfassungs- und Inventurprojektes „Daphne“ in Dresden.

Verluste durch alliierten Kunstraub

Lediglich 14 Werke wurden als NS-Raubkunst eingeordnet, davon wiederum neun als „wahrscheinlich“ und fünf als „gesichert“. 13 Stücke, darunter Max Liebermanns „Reiter am Strand“ aus der Sammlung David Friedmann, Henri Matisses „Sitzende Frau“ aus der Sammlung Paul Rosenberg, Adolph Menzels „Inneres einer gotischen Kirche“ aus der Sammlung Wolffson-Cohen, wurden inzwischen restituiert, bei Carl Spitzwegs „Klavierspiel“ (aus der Sammlung Henri Hinrichsen) läuft das Verfahren noch.

Was weitgehend unbekannt blieb: Kein einziges der restituierten Werke wurde von dem von den Medien als „skrupelloser Sammler“ verunglimpften Hildebrand Gurlitt während der NS-Zeit erworben, sondern alle erst zwischen 1947 und 1953 von einer Pariser Galerie.

Überhaupt blieb von dem „milliardenschweren Nazischatz“ beziehungsweise „spektakulärsten Kunstfund der Nachkriegszeit“ am Ende wenig übrig. Die aufgefundene Sammlung gilt Kennern wie Lupfer als „gute Kollektion“, andere sprechen despektierlich von einer „Ansammlung“ von vornehmlich Grafik der klassischen Moderne und Malerei des 19. Jahrhunderts (lediglich 130 Ölgemälde). Wäre es anders, hätte die Bundesregierung nie dem letzten Wunsch Gurlitts entsprechen dürfen, der seine Sammlung dem Kunstmuseum Bern testamentarisch überlassen hat.

Juristen sind sich weitgehend einig, daß es für die 2012 erfolgte Beschlagnahme der Werke durch die bayrische Justiz keine gesetzliche Grundlage gab, auch weil keine konkreten Hinweise auf eine illegale Herkunft der Bilder vorlagen. Trotzdem feiern Politiker und Kunstwissenschaftler ihr Handeln. Nur dank der durch den „Fall Gurlitt“ möglichen Recherchen wisse man jetzt, wie der Kunstmarkt und der Kunstraub im besetzten Frankreich funktioniert habe. „Wir haben alles getan, was machbar war“, versichert Lupfer: „Ein größerer Einsatz an Fachleuten, Wissenschaftlern und Geldwesen wäre kaum vorstellbar gewesen.“

Eines aber spielt auf diesem Forschungsgebiet weiterhin kaum eine Rolle: die entsetzlichen deutschen Verluste. Es waren Museen und private Sammler auf der ganzen Welt, die ohne einen Hauch schlechten Gewissens vom staatlich organisierten Kunstraub der Nationalsozialisten profitierten. Alle wußten, daß die deutschen Museumsdirektoren und Galeristen diese Stücke niemals freiwillig abgegeben hätten. Um den Verbleib vieler Kunstwerke des 1945 folgenden Raubes der Alliierten und ihrer Verbündeten festzustellen, reicht ein Blick in die Bestandskataloge russischer oder polnischer, aber auch amerikanischer Museen.

Ein Unrechtsbewußtsein existiert jedoch nur in Deutschland. 

Nadine Bahrmann, Andrea Baresel-Brand, Gilbert Lupfer (Hrsg.):  Kunstfund Gurlitt. Wege der Forschung. De Gruyter, Berlin 2020, broschiert, 188 Seiten, Abb., 36,50 Euro