© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Die Schande der Besatzung abwaschen
In Westeuropa begann Ende des Krieges das Leiden echter oder vermeintlicher Kollaborateure mit den Deutschen / Auch alte Rechnungen wurden beglichen
Karlheinz Weißmann

Ausgelöst durch die Nachricht von der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 kam es in mehreren Städten Belgiens zu Demonstrationen, begleitet von Ausschreitungen gegen wirkliche oder vermeintliche Kollaborateure. Deren Häuser wurden angegriffen, zum Teil geplündert und zerstört, die Familien gedemütigt, oft mißhandelt, die Frauen vergewaltigt, die Beschuldigten zusammengeschlagen und in einigen Fällen gelyncht. Diese Art von „Volksjustiz“ verbreitete sich in allen Gebieten Europas wie ein „Tumor“ (Curzio Malaparte) parallel zum Rückzug der Wehrmacht und dem Vormarsch der Alliierten. Die Motive derer, die sich gegen „Verräter“ wandten, die mit den Deutschen zusammengearbeitet oder von deren Regime profitiert hatten, waren allerdings disparat.

Eine wichtige Rolle spielte das Rachebedürfnis, der nachvollziehbare Wunsch, Vergeltung zu üben für erlittenes Unrecht. Ein Impuls, der aber nur schwer zu trennen war von einem zweiten, bei dem es nicht um individuelle Genugtuung ging, sondern um kollektive. Man wollte die Schande der Niederlage abwaschen, die eigene – wahrscheinlich schwankende – Haltung während der Besatzungszeit vergessen machen und die nationale Ehre im Mythos des geschlossenen Widerstandes retten.

„Deutschenliebchen“ und ihre Kinder mußten leiden

In den Niederlanden hat dieses Phänomen auch das Narrativ der Jahrzehnte nach dem Krieg geprägt. Im Selbstverständnis waren praktisch die große Mehrheit aller Niederländer Widerständler gegen die deutsche Besatzungsmacht, der nur eine kleine Schar von NS-Hörigen wie dem 1948 hingerichteten Anton Mussert als Kollaborateure gedient hätten. Erst in den siebziger und achtziger Jahren wiesen erste niederländische Historiker – gegen laute Proteste – darauf hin, daß die Kollaboration doch viel größere Ausmaße hatte. So  überschritt die Zahl der Freiwilligen für die SS oder NS-Organisationen wie den „Germanischen Landdienst“ jene der Widerständler im engeren Sinne bei weitem. Die niederländische Wirtschaft fungierte während dieser Zeit als verläßlicher Zulieferer der Deutschen, und selbst offenkundige NS-Unrechtspolitik wie die Judenverfolgung wurde mitgetragen, so daß Adolf Eichmann später  schwärmen konnte, daß die Deportationen aus den Niederlanden „wie am Schnürchen“ liefen. In der Stunde der  Befreiung durch die Alliierten, des Sieges über die Okkupanten, sollte dies alles schnellstens überwunden werden.

In diesen Kontext gehörte auch das brutale Vorgehen gegen die „Deutschenliebchen“, die öffentlich geschoren, nackt durch die Straßen getrieben, geschändet, verstümmelt und manchmal getötet wurden, weil man sie der „horizontalen Kollaboration“ anklagte. Wie groß die Zahl der Betroffenen war, ist schwer abzuschätzen. Aber da während des Krieges mehrere hunderttausend Mädchen und Frauen eine Beziehung zu einem Deutschen hatten, dürfte sie erheblich gewesen sein. Kinder – „Deutschenbastarde“ –, die aus solcher Verbindung hervorgingen, wurden über Jahrzehnte geächtet. Auch das nährt den Verdacht, daß der Sexualneid der einst besiegten Männer ein wichtiger Grund für solche Art der Abrechnung war.

Trotz des Eindrucks der Spontanität bei den Ausschreitungen darf man keinesfalls übersehen, welche Rolle die Strategie der Kommunisten spielte. Sie hatten in den meisten Partisanenverbänden Einfluß. Jetzt ging es ihnen einerseits darum, zu verdrängen, daß sie anfangs auf der Seite der Landesfeinde gestanden und aus Kadergehorsam wegen des Hitler-Stalin-Pakts zu den Befürwortern der Kollaboration gehört hatten. Andererseits wollten sie eine Machtposition sichern, die ihnen im Übergang vom Krieg zum Nachkrieg in die Hände gefallen war und wesentlich mehr Einfluß garantierte, als sie jemals durch freie Wahlen erlangen konnten.

Diese Überlegung hat nicht nur die Entscheidungen der Kommunisten im sowjetisch besetzten Teil Europas bestimmt, sondern auch deren Vorgehen auf griechischem, italienischem und französischem Boden. In diesen Ländern brach 1944 ein Bürgerkrieg aus, bei dem es kaum noch um die Bestrafung der Helfershelfer der Deutschen ging. Vielmehr wollte man sämtliche politische Konkurrenten ausschalten, ganz gleich, ob es sich dabei um Sozialdemokraten, Liberale, Christen oder Konservative handelte. In Griechenland sind während der Auseinandersetzungen zwischen 20.000 und 40.000 Menschen im Kampf gefallen oder bei Repressalien liquidiert worden, in Italien dürften es etwa 100.000 gewesen sein, in Südfrankreich sowie dem Pariser Raum waren es nach einigen Schätzungen 40.000, nach anderen 200.000 Tote.

Dominique Venner hat in seiner Geschichte der épuration den Eindruck wiedergegeben, daß hier von Fall zu Fall politische Rechnungen beglichen wurden, die seit den Zeiten des jakobinischen Terrors von 1793 aufgelaufen waren. Es ist insofern nicht übertrieben, von einem quasi-revolutionären Prozeß zu sprechen, der teilweise bis zum Ende der 1940er Jahre dauerte, aber Wirkungen hatte – was den Einfluß der äußersten Linken auf das französische Gewerkschafts- und Bildungswesen angeht –, die bis heute spürbar sind. 

In den westeuropäischen Ländern scheiterte der kommunistische Umsturzversuch allerdings und war in den ost- und mitteleuropäischen nur da erfolgreich, wo ihn die Sowjetunion mit ihrer militärischen Macht deckte. Denn weder Washington noch London hatten Interesse daran, den Kontinent in einem Chaos versinken zu sehen, von dem nur Moskau profitieren würde. Also duldete oder befürwortete man summarische Entlassungen und im einen oder anderen Fall die Enteignung von Unternehmern. 

Aber rasch erkannte man auch, daß weder ohne die Beamten noch ohne die Fabrikbesitzer auszukommen war, wenn man die Verwaltung, die Infrastruktur und das Wirtschaftsleben aufrechterhalten oder wiederaufbauen wollte. Also kehrten die meisten der Davongejagten relativ rasch zurück. Parallel dazu milderte man die bei Kriegsende drastisch verschärften oder neu eingeführten Gesetze, mit denen Straftatbestände geschaffen worden waren, die es bis dahin gar nicht gegeben hatte. Die ganze Schwere der Verfolgung traf jetzt nur noch Angehörige bestimmter Volksgruppen, die per se als verdächtig galten – etwa die Elsässer – oder Mitglieder von Parteien, die sich ausdrücklich an der NSDAP oder der faschistischen Partei orientierten oder in militärische Verbände auf deutscher Seite eingetreten waren.

Es handelte sich um circa 500.000 Männer (neben etwa 310.000 Volksdeutschen). Wobei deren Entschluß, als Bürger des besetzten Dänemark, Norwegen, Frankreich, Belgien oder der Niederlande, des neutralen Schweden oder der neutralen Schweiz oft von der Annahme begleitet war, gleichzeitig dem Heimatland zu dienen, etwa um ihm einen angemessenen Platz in Hitlers „Neuem Europa“ zu verschaffen. Dementsprechend hatte die dänische Regierung (die in der Mehrheit aus Sozialdemokraten bestand) nach dem Beginn des Rußlandfeldzugs und noch einmal 1943 den Berufsoffizieren und -soldaten der eigenen Truppen den Übertritt in einen Verband der Waffen-SS erleichtert, den Sold gezahlt und die Beibehaltung von Dienstrang und Anciennität bei Rückkehr in die Nationalarmee garantiert. 

Narrativ vom Friedensbeginn 1945 ist nicht haltbar

Daß keine dieser Zusagen eingehalten wurde, hatte auch mit dem erbitterten Kampf zwischen dem dänischen Widerstand und der deutschen Besatzungsmacht samt ihren einheimischen Helfern während der letzten Kriegsphase zu tun. Aber den Ausschlag dürfte hier wie bei den vergleichbar gelagerten Fällen – Belgien und die Niederlande vor allem – gegeben haben, daß man die ausgeprägte Kollaborationsbereitschaft der Masse der Bevölkerung aus dem Gedächtnis tilgen wollte. Die Freiwilligenmeldung galt nun als Straftat, insgesamt verurteilten die dänischen Gerichte 14.493 Personen, 62 zu lebenslanger Haft, 112 zum Tode; vollstreckt wurden 46 Todesurteile.

Die Behandlung der Festgesetzten schwankte stark, reichte von normaler Haft über Internierung bei massiver Körperverletzung bis zu Folter und Scheinhinrichtung. Allerdings ging man in Dänemark nicht so weit wie in anderen vormals besetzten Ländern, die den Betrieb der deutschen Lager wieder aufnahmen. Besonders berüchtigt waren das KZ Struthof und das Sicherungslager Schirmeck im Elsaß, in die zwischen dem Dezember 1944 und 1948 mehrere tausend Personen ohne Urteil eingeliefert wurden, darunter Alte, Frauen, Halbwüchsige und Kinder. 

Die Kontrolle hatten die Partisanenverbände der Forces françaises de l‘intérieur, die unter Kontrolle der Kommunisten standen. Die nutzten ihre neugewonnene Macht vor allem zum massiven Vorgehen gegen autonomistische Kreise – verbürgt ist die Tötung von mindestens vier katholischen Priestern, die als Regionalisten galten – und zur Errichtung eines Terrorregimes, das nicht nur wahllos festnahm und einsperrte, sondern auch jede denkbare Art von Gewalt gegen Wehrlose ausübte. Einer der verhafteten Geistlichen hielt in seinen Aufzeichnungen fest: „Folterschläge, Brutalitäten, sadistische Spiele der Wachen, schwere Arbeit bei Schnee und sibirischer Kälte, Krankheiten (Scharlach, Diphterie), Mangel an Hygiene und Nahrung, sexuelle Gewalt gegen die jungen Frauen, die den Wachen ausgeliefert wurden (einige begingen Selbstmord).“

Verglichen mit dem Schicksal der Ostdeutschen, der Donauschwaben oder der Italiener, die Tito in die Hände fielen, konnte selbst das Schicksal der Elsässer als glimpflich gelten. Aber es macht doch deutlich, daß das heute geltende Narrativ vom Ende des Krieges und Beginn des Friedens bestenfalls einseitig ist. Der britische Historiker Keith Howe hat im Hinblick auf den Zeitraum zwischen 1943 und 1950 von den „Jahren des Chaos“ gesprochen. Es war ein blutiges und grausames Chaos, das Millionen wenn nicht das eigene, dann das Leben der Angehörigen und Freunde oder die Heimat kostete. Selbst wenn man davonkam. Es wäre an der Zeit, auch daran zu erinnern.