© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Mit den Augen eines sowjetischen Funktionärs
Fritjof Meyer, langjähriger Osteuropa-Redakteur des „Spiegel“, blickt zurück: Erinnerungen eines „Kreml-Astronomen“
Paul Leonhard

Karl war schon vor seiner Arbeit für den Spiegel ein Tausendsassa. Einer, der den West-Berliner Polizeipräsidenten Johannes Stumm vor einer möglichen Verhaftung durch Vopos warnte, als dieser sich 1956 versehentlich auf Ost-Berliner Gebiet begeben hatte. Und der nach eigener Bekundung wohl verhinderte, daß sich der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 drei Jahre später wiederholte, als West-Berliner ihrerseits nach einer Ansprache Willy Brandts zum Brandenburger Tor stürmten und Losungen gegen die Sowjets, die Briten und Franzosen riefen. Der „demoerfahrene“ Karl gab Stumm den Rat, schnellstens Polizeifahrzeuge und Wasserwerfer an der Grenze auffahren zu lassen und mit Gewaltanwendung zu drohen: „Stumm hielt sich daran, mit Erfolg.“

Karl ist das Alter ego von Fritjof Meyer. Der 1932 in Magdeburg geborene überzeugte „Marxianer“ war lange Jahre Leitender Redakteur für Ost- und Außenpolitik, ein Vielschreiber, der das Bild über die Sowjetunion der Spiegel-Leser über lange Jahre geprägt hat. Unter dem Titel „Die Mücke im Fell des Bären“ breitet er jetzt über 570 Seiten seine Erinnerungen an ein erlebnisreiches journalistisches Leben aus.

Meyer mußte erst lernen, zwischen den Zeilen zu lesen

Der Leser erfährt nicht nur viel über die europäische Politik zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern auch über die Arbeitsweise des Hamburger Nachrichtenmagazins, das als „Sturmgeschütz der Demokratie“ dienen sollte, aber mit zahlreichen Ex-SS-Leuten besetzt war und den Ruf eines „neuen Reichssicherheitshauptamtes“ (Außenminister von Brentano) genoß.

Meyer war in dieser bestens bezahlten „Journalistengruppe von höchster Verschlagenheit“ (Historiker Gerhard Ritter) ein Außenseiter, von Rudolf Augstein 1966 als Redakteur für Ostfragen im Auslandsressort eingestellt, weil oder obwohl er die „Sowjetunion für den reaktionärsten Staat Europas“ hielt. Seinen Ruf als exzellenter Kenner der Vorgänge hinter dem Eisernen Vorhang erarbeitete er sich, in dem er die „langweiligen russischen Zeitungen und Zeitschriften“ studierte, „bis er auf die Pointe einer schier verschlüsselten Nachricht“ stieß. 

Er habe mit den Augen eines sowjetischen Funktionärs gelesen und so die Signale gedeutet, schreibt Meyer. Entscheidend waren der letzte Absatz einer Verlautbarung, weil erst dort die Moral der Geschichte erschien, sowie die „Reihenfolge des Auftretens von Führungspersonen, noch deutlicher das Fehlen einer Figur“, die „tatsächlich den Rückschluß auf die Machtverhältnisse im Zentrum“ erlaubte.

Als Journalist war er damit erfolgreich, konnte sich rasch ein umfangreiches Netzwerk an Kontakten aufbauen, das ihn mit Interna aus der sowjetischen Nomenklatur versorgte. Dazu kamen die Berichte der Spiegel-Korrespondenten vor Ort, aus denen sich Meyer wie „aus einem Steinbruch“ bediente, und seine eigenen Analysen. Aus all diesem setzte er seine Stücke zusammen und brachte es – wie er mehrfach betont – auf 108 Titelgeschichten und mehrfach auf bis zu vier Artikel in einer Ausgabe.

Das alles sei keine Kreml-Astrologie gewesen, sondern „angesichts der wenigen erreichbaren Daten und der Entfernung des Objekts“ habe es sich in den Analysen um „eine wissenschaftliche Disziplin, um Kreml-Astronomie“ gehandelt, schreibt Meyer.

Leider mißachtet er in seinem Buch eine Grundregel des Magazinjournalismus, nach der man sich hüten soll, den Leser auf zu viele Nebenschauplätze zu führen, die von der eigentlichen Geschichte ablenken. Daran habe er sich nie gewöhnen können, weil er sonst auf Interessantes hätte verzichten müssen, gesteht Meyer. Genau diese Vorliebe für Rückblenden und Szenenwechsel, für Einschübe und Erläuterungen, macht aber sein Buch auf den ersten 100 Seiten schwer lesbar, zumal es auch kein Glossar gibt, das die handelnden Personen einordnet.

Meyers Erinnungen wäre ein sorgfältiges, zeitlich ordnendes, die vielen Dopplungen und Spekulationen streichendes und die falsche Schreibweise russischer Worte (kogda) erkennendes sowie Jahreszahlen hinterfragendes Lektorat zu wünschen gewesen. Denn der Autor vermag durchaus pointiert und witzig zu erzählen, insbesondere wenn er von seinen Fahrten mit den sozialistischen „Falken“ durch Schlesien schreibt.

Fritjof Meyer: Die Mücke im  Fell des Bären. Lau-Verlag, Reinbek 2020, gebunden, 572 Seiten, 24 Euro