© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Politische Märchen und Heilsversprechen
Die Digitalisierungspläne der Bundesregierung sind für Ökologen ein Motor der „Nicht-Nachhaltigkeit“
Christoph Keller

Was haben der Corona-Shutdown und die Wirtschaftskrise mit dem deutschen Rückstand bei der Digitalisierung zu tun? Eigentlich wenig. Im „Homeoffice“ und bei Videokonferenzen gab es gelegentlich Aussetzer, aber die Amazon- oder Netflixfilme ruckelten auch im Januar schon mehr als in Südkorea oder Japan.

Dennoch soll das 130 Milliarden Euro schwere „Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket“ der Bundesregierung nicht nur Arbeitsplätze erhalten oder wirtschaftliche und soziale Härten abfedern, sondern auch einen „Digitalisierungsschub“ auslösen: in der Verwaltung und der „fehlerfreien registerübergreifenden Identifikation von Personen“, im Gesundheits- und Kulturbereich, bei der Bildung („E-Learning“), bei der Bundeswehr und in der Schiffahrt sowie bei der Steuerung der Energiewende und in der deutschen Forstwirtschaft.

„Digitale Legendenbildung“

Neu ist letzteres nicht, denn schon voriges Jahr geriet Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) ins Schwärmen, als sie ein Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen“ so kommentierte: Digitalisierung, das sei „der Motor für Nachhaltigkeit“. Zwei Dutzend Autoren des aktuellen „Jahrbuchs Ökologie“ sehen das deutlich anders. Vielmehr sei die digitale Gesellschaft der hochtourig im Rückwärtsgang laufende „Motor für Nicht-Nachhaltigkeit“. Aber die mit einem Magister in Politologie und Germanistik ausgestattete SPD-Berufspolitikerin plappere nur die in Worthülsen gepackten leeren „Heilsversprechen“ deutscher Umweltpolitik nach.

Ohne diese „märchenhafte Phantasie“ komme daher auch „digitale Legendenbildung“ nicht mehr aus, wie ein prototypischer Absatz aus dem Bericht der Kohlekommission (JF 24/19) verrate: „Mitteldeutschland wird einer der Vorreiter bei der Digitalisierung der industriellen Wertschöpfungsketten sein. Daraus entstehen Fabriken der Zukunft, in denen mit möglichst geringerem Energieverbrauch, einer optimierten CO2-Bilanz, digitalsmarten Produktionslösungen und 5G-Konnektivität rationell und ressourcenschonend die vierte industrielle Revolution stattfindet.“

Da habe die Regierung wohl vergessen zu erklären, welche Digitalisierung sie meine. Denn jene von Amazon, Google, Apple & Co. könne es wohl nicht sein, höhnt Herausgeber Jörg Sommer, erfolgreicher Kinderbuchautor und seit 2009 Chef der Deutschen Umweltstiftung. Die IT-Giganten seien alles andere als Garanten der Nachhaltigkeit. Sie gehorchten dem alten Wachstumsmantra, das, wie Armin Grunwald (Karlsruher Institut für Technologie) anprangert, die Bundesregierung „alternativlos“ nachbete. Die „brutalst mögliches Wachstum“ befeuernde US-Profitlogik stehe aber im unaufhebbaren Widerspruch zum ökologischen Ziel, mittels Digitalisierung Produktion und Konsumtion ressourcenschonend zu gestalten.

Das kalifornische Geschäftsmodell funktioniere hingegen nur bei extremer Beschleunigung der Innovationsprozesse, was ohne verschärfte Ausbeutung von Natur und Mensch nicht möglich sei. 430 Millionen Mobiltelefone, weltweit verkauft allein im vierten Quartal 2016, und mit einer Durchschnittsnutzungsdauer von zwanzig Monaten schon 2018 nichts als Elektroschrott, verlangten einen hohen Preis, den die Umwelt im globalen Süden bezahle.

Ähnlich stehe es mit der für die digitale Welt unentbehrlichen Batterietechnologie. Hier rechnet der Techniksoziologe Felix Sühlmann-Faul vor, daß der Bedarf der dafür benötigten, überwiegend aus dem Kongo stammenden Elemente wie Kobalt, Tantal und Wolfram aktuell bei 40.000 Tonnen liege und bereits 2025 die Marke von 70.000 Tonnen überschreiten werde.

Wachsender Stromverbrauch und „Rebound-Effekte“

Mit anhaltend verheerenden ökologischen, aber auch fatalen politischen Folgen, denn in dem zentralafrikanischen Bürgerkriegsland, wo paramilitärische Gruppen um ihren Einfluß auf das Rohstoffgeschäft kämpfen, seien bereits 13 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, viele vom Hunger bedroht, und eine Dreiviertelmillion falle in die Kategorie jener „Flüchtlinge“, in denen das Hilfswerk UNHCR Aspiranten für eine „Umsiedlung“ nach Europa erblickt.

Mit solchen Verwüstungen der globalisierten Billiglohnökonomie gehe ein unvorstellbarer Energieverbrauch einher: Schließlich würden die Verkäufer ihre Kunden zu gewinnbringender Nutzung ihres digitalen Spielzeugs animieren. Jeden Tag schauen sie über eine Milliarde Stunden Youtube-Videos an. Greenpeace stuft daher das Internet als sechstgrößten Stromverbraucher der Welt ein. Global betrage der Anteil des Internets am Stromverbrauch derzeit zehn Prozent, in Deutschland liege er bei acht Prozent – Tendenz stark steigend.

Hingegen würden bisher auf kaum einem Digitalisierungsfeld die Einspar­erwartungen erfüllt. Vielfach seien gegenteilige „Rebound-Effekte“ zu beobachten. So habe das Carsharing dazu geführt, daß in Großstädten mehr aufs Auto zurückgreifen, wodurch Bus und Bahn ins Hintertreffen geraten seien, warnen Johanna Pohl und Tilman Santorius (TU Berlin).

Und angesichts der Corona-Hygiene dürften die durch Einsatz von Künstlicher Intelligenz gesteigerten ökologischen ÖPNV-Vorteile überdies nicht mehr so unumstritten sein, wie sie Dirk Meyer, Leiter der Abteilung Forschung und Digitalisierung in Schulzes Umweltministerium, darstellt. Daß es mit der Digitalisierung „keine Fortschreibung der individuellen Mobilität“ gebe, ist angesichts der viralen Aerosole in Bahnen und Bussen sicher überholt.

In seiner Gesamtbilanz billigt Jörg Sommer der Digitalisierung bestenfalls einen „marginalen Kollateralnutzen“ zu. Der käme etwa, wie er in grotesker Fehleinschätzung meint, der Schulschwänzer-Bewegung „Fridays for Future“ zugute, die ohne internetbasierte Kommunikationsmittel gar nicht entstanden wäre. Zudem profitierten jene „Akteure der Zivilgesellschaft“, die sich im „digitalen Diskurs“ an der „kollektiven Erarbeitung nachhaltiger“, letztlich systemüberwindender, „vielfältig demokratischer Zukunftsvisionen“ beteiligten.

Damit nähern sich Jörg Sommer, der eine Verstaatlichung von IT-Konzernen für eine Option hält, und andere Jahrbuch-Autoren, die die „gesellschaftliche Aneignung der Digitalisierung“ und „radikale Veränderungen“ predigen, den extremen Positionen des linksapokalyptischen, das grüne Establishment attackierenden Flügels der Umweltbewegung an. Der propagiert lautstark: „Es gibt keinen grünen Kapitalismus.“

 jahrbuch-oekologie.de

 www.deutscheumweltstiftung.de

 www.bipar.de

Jörg Sommer (Hrsg.): Die Ökologie der digitalen Gesellschaft. Jahrbuch Ökologie. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2020, broschiert, 248 Seiten, 21,90 Euro