© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Das leise Sterben im Regenwald
Peru: Das arme Anden-Land wurde in kurzer Zeit nach Brasilien zum zweiten Corona-Hotspot Südamerikas
Jörg Sobolewski

Édgar Reynaldo ist verzweifelt: „Die Leute hier waren nie reich, aber die Erde ist fruchtbar und der Wald gibt uns, was wir brauchen. Der Tourismus bringt normalerweise etwas Geld in die Region Huánuco. Doch nun, mit der Quarantäne sind die Leute arm und sterben trotzdem!“ Der 30jährige Peruaner besitzt ein Hostel in Tingo María, der Provinzhauptstadt von Leoncio Prado am Ostrand der Anden. Die Provinz ist doppelt so groß wie das Saarland und eigentlich ein Geheimtip für Weltreisende: Der Amazonas-Regenwald zur Rechten und die beeindruckenden Anden zur Linken sind Garantie für atemberaubende Fotos und Abenteuerurlaub in einer weitgehend unberührten Gegend.

Von der wirtschaftlichen Entwicklung blieb dieser Landstrich lange abgeschnitten. Drei Jahrzehnte verbreitete die maoistische Untergrundorganisation „Leuchtender Pfad“ (Sendero Luminoso/SL) Schrecken und Terror; dann führen SL-Splittergruppen das Werk fort. Eine unberührte und dünnbesiedelte Landschaft ist die Folge. Ein Vorteil, den Édgar und seine Freunde der lokalen Tourismusbranche nutzen wollten. Nicht illegaler Holzeinschlag oder Goldabbau sollte hier für Einkommen sorgen, sondern sanfter und qualitativ hochwertiger Tourismus.

Doch dann kam das Coronavirus und damit eine der radikalsten Ausgangssperren der Welt: „Quédate en casa!“ (Bleib zu Hause!) wurde zur Losung der 33-Millionen-Republik, und die Umsetzung der Ausgangssperre bedeutete für fliegende Händler oder Garküchenbetreiber das wirtschaftliche Aus. In einem Land, in dem fast 70 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor ihr Auskommen finden, ist das eine Katastrophe. „Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“, nennt das Édgar, und verweist auch auf die Folgen für die Natur: „Wenn die Leute nicht mehr Touristen durch den Wald führen können, dann beginnen eben viele damit, geschützte Tierarten zu fangen und zu verkaufen oder illegal Holz zu schlagen.“ Die organisierte Kriminalität, so meint er, habe Hochkonjunktur.

Argentinien kommt bislang gut durch die Corona-Krise

Der Notarzt Fidel Díaz León widerspricht ihm nicht, hält aber „Quédate en casa“ dennoch für alternativlos: „Wir haben 18 Intensivbetten und neun Beatmungsgeräte, für eine Provinz von 130.000 Einwohnern. Da ist nicht viel Raum für Experimente.“ Die Sorge des Leiters der Intensivmedizin des Provinzkrankenhauses gilt vor allem den abgelegenen Ortschaften der Indios. „Wir wissen nicht, wie sich Covid-19 dort entwickelt. Aber wir wissen, daß in einigen angrenzenden Provinzen neben Corona auch das Denguefieber aufgetreten ist. Bei der unklaren Faktenlage sei das besorgniserregend.“ Tatsächlich leidet Peru bereits seit 2018 unter einem Anstieg der Fallzahlen der ebenfalls aus Asien stammenden Viruskrankheit. Mit bislang über 14.000 Fällen ist der Dengue-Ausbruch einer der stärksten in der peruanischen Geschichte.

Beim großen Nachbarn Brasilien ist die Lage längst außer Kontrolle. Eine halbe Million Dengue-Fälle gibt es bereits in diesem Jahr – zusätzlich zu den 750.000 bestätigten Corona-Fällen. Auch hier wüten beide Krankheiten auffällig stark in den Gemeinden mit einem hohen Indio-Anteil. Über 40.000 Covid-19-Tote hat Brasilien, das seinen Lockdown viel zu spät begann, bereits zu beklagen. In Peru sind es mit 6.000 Toten (bei etwa 200.000 Infektionen) etwa so viele wie in den Niederlanden.

Aber nicht in allen Ländern Südamerikas sind die Folgen der Corona-Pandemie so drastisch. Argentinien kommt erstaunlich gut durch die Krise. Mit etwa 25.000 Fällen hat das riesige, aber nur 45 Millionen Einwohner zählende Land eine so niedrige Infektionsrate wie Polen. Einige vermuten, daß dies auch an einem entwickelteren Gesundheitssystem liegt, das zwar Schwächen aufweist, aber im Normalfall ausreichend Kapazitäten hat.

Dennoch hat sich Südamerika zum neuen Corona-Epizentrum entwickelt, auch das relativ reiche Chile meldet inzwischen 150.000 Corona-Fälle. Während die einen Beobachter noch darüber streiten, ob nun durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie mehr Schaden angerichtet wird als durch die Pandemie selbst, fürchten andere die Wechselwirkung der Corona-Krise mit der Auswanderungswelle aus Venezuela. Über zwei Millionen ehemalige Untertanen des Maduro-Regimes sind, größtenteils zu Fuß, auf dem Kontinent unterwegs – und dabei nicht überall gut gelitten. 

Provinz Leoncio Prado:  www.munitingomaria.gob.pe