© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Stell dir vor, es gibt Frieden und niemand macht mit
Libyen: Der Versuch, eine Waffenruhe auszuhandeln, scheitert an den Machtinteressen der verschiedenen Parteien
Marc Zoellner

A m Ende blieb es bei einem Telefonat: Ursprünglich sollten bereits diesen Montag die russischen Außen- und Verteidigungsminister Sergei Lawrow und Sergei Schoigu mit ihren türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavusoglu und Hulusi Akar am Bos­porus zusammentreffen, um über die Zukunft des libyschen Staates zu entscheiden. Doch nach einem Anruf des Kremls in Ankara wurden die Gespräche auf unbestimmte Zeit vertagt. Zu tief seien die Gräben zwischen beiden Nationen, ließen gut informierte diplomatische Quellen im Anschluß an die Presse durchsickern.

Türkei und Rußland stehen sich rivalisierend gegenüber

Das abgesagte Ministertreffen von Istanbul war bereits der zweite Versuch allein diesen Juni, für Libyen eine Friedensoption zu ergründen. Seit Mai 2014 tobt im nordafrikanischen Mittelmeeranrainer ein blutiger Bürgerkrieg um die Kontrolle des Landes mitsamt seiner öl- und gasreichen Infrastruktur. Auf der einen Seite ringt die in der libyschen Hauptstadt Tripolis ansässige, international anerkannte „Regierung der Nationalen Übereinkunft“ (GNA) unter dem Ministerpräsidenten Fayiz as-Sarradsch um ihr politisches Überleben. 

Im ostlibyschen Tobruk wiederum hat sich das im Herbst 2014 vor islamistisch motivierten Aufständen aus Tripolis geflohene libysche Parlament, der sogenannte „Abgeordnetenrat“, als eigenständige Macht unter Parlamentssprecher Aguila Saleh etabliert. Unterstützt von der „Libyschen Nationalen Armee“ (LNA) unter dem Oberkommandierenden Chalifa Haftar, drängt der Abgeordnetenrat auf eine militärische Rückeroberung Tripolis’, um as-Sarradsch als Regierungschef mit Saleh zu ersetzen. 

Doch weder as-Sarradsch noch Saleh besitzen eigene Truppen. Letzterer ist abhängig vom Wohlwollen der Soldaten Haftars, dem Kritiker vorwerfen, auf dem Rücken Salehs eine Militärdiktatur in Libyen errichten zu wollen. Ersterer wiederum wird gedeckt sowohl von Milizverbänden aus Tripolis und Misrata als auch von der unverhohlen islamistischen Gruppierungen, namentlich Moslembruderschaft. Genau an dieser Stelle wird der libysche Konflikt länderübergreifend: Mit umfangreichen Waffenlieferungen sowie Kampfbombereinsätzen unterstützt Ägyptens Machthaber Fatah as-Sisi, der für seine Machtergreifung selbst gegen die Moslembruderschaft geputscht hatte, gemeinsam mit Saudi-Arabien die LNA. Die GNA wiederum erfreut sich der logistischen Hilfeleistung des Emirs von Katar, des lokalen Erzrivalen beider Staaten. Als Verbündeter Katars im Nahen Osten hat sich Ende 2019 auch die Türkei auf die tripolitanische Seite geschlagen – als deren Gegner im Syrienkrieg bezieht wiederum Rußland Stellung für Tobruk. 

In Istanbul wurde für Montag aus diplomatischen Kreisen ein Kuhhandel erwartet, denn die militärische Lage ist derzeit verfahrener denn je: Immerhin kämpften zuletzt auf Tobruker Seite gut anderthalbtausend Söldner der russischen „Gruppe Wagner“. Deren anfangs günstig verlaufende Belagerung der Hauptstadt Tripolis wurde hingegen Ende Mai von syrischen Söldnertruppen durchbrochen, die die Türkei angeheuert hatte. Nach der eiligen Evakuierung der Wagner-Milizen durch russische Antonow-Transportflugzeuge setzt auch Moskau nun verstärkt auf angeheuerte syrische Milizionäre. „Die Türkei und Rußland benutzen verzweifelte Söldner aus ihrem letzten Krieg, um in ihrem nächsten Krieg zu kämpfen“, titelte jüngst die Zeitschrift Foreign Policy.

Ankara braucht Libyen als Ganzes

Tatsächlich schien der Kreml bis Sonntag noch bereit, für einen Waffenstillstand zumindest Haftar als Kommandeur zu opfern. Doch der militärische Vorstoß der Türkei reichte zu diesem Zeitpunkt bereits bis in die Siedlungsgebiete der strategisch bedeutsamen mittellibyschen Stadt Sirte hinein. Und im Gegensatz zu Moskau ist Ankara nicht bereit, gleich dem Falle Syriens, auch für Libyen eine regionale Aufteilung der Macht zu akzeptieren: Immerhin hatte die Türkei erst vergangenen Dezember eine gemeinsame Seegrenze sowie eine daran gekoppelte Freihandelszone mit der GNA vereinbart (JF 52/19). Für die Verwirklichung dieses Vertrags benötigt Ankara indessen Libyen als Ganzes. 

Für Moskaus Interessen wiederum, die ebenso wie jene der Türkei speziell beim Ölreichtum des Landes liegen, würde ein Erhalt des Status quo genügen – schließlich kontrolliert noch immer die LNA das Gros der libyschen Ölreserven. Anfang Juni schlug Ägypten mit der „Kairoer Deklaration“ einen sofortigen Waffenstillstand sowie den Rückzug sämtlicher ausländischer Söldner vor. Mutmaßlich auf Druck Ankaras lehnte die GNA, die militärisch das Heft in der Hand hält, den von Moskau inszenierten Kairoer Vorschlag unkommentiert ab.