© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Rote Flora am Pazifik
USA: Seattle wird zur Hochburg amerikanischer Linksradikaler
Jörg Sobolewski

Als am 8. Juni die städtische Polizei in der US-Großstadt Seattle völlig überraschend die Polizeiwache in der Nähe des Cal Anderson Park evakuierte, waren nicht nur anwesende Journalisten überrascht. In der Nacht zuvor hatten linksradikale Demonstranten, die gemeinhin der „Black Lives Matter“-Bewegung zugerechnet werden, teils gewalttätig gegen die Vorgänge rund um den Tod des Afroamerikaners George Floyd demonstriert. Doch anders als in den meisten amerikanischen Städten löste ihr Protest eine Kettenreaktion aus, an deren Ende die Errichtung einer „Autonomen Zone“ stand. Ein für die USA neues Phänomen, auf dessen Entwicklung nun das ganze Land schaut. 

An dem Freistaat an der Westküste der Supermacht scheiden sich die Geister entlang der tiefen Bruchlinien der US-amerikanischen Politik. Für die einen ist die „Capitol Hill Autonomous Zone“ (Chaz) ein Entwurf einer besseren, herrschaftsfreien Welt. Für die anderen der Inbegriff eines rechtsfreien Raums. Seattle gilt seit langem schon als Hotspot gewaltbereiter Linksextremisten. 

Straßenschlachten machten Szene bekannt

In den neunziger Jahren wuchs die autonome Szene, die landläufig auch als „Antifa“ bezeichnet wird, schnell auf mehrere zehntausend Köpfe an, weitgehend ohne öffentliche Aufmerksamkeit. Erst die massiven Gewaltausbrüche anläßlich der Welthandelsorganisations-Tagung in Seattle 1999 brachten den Extremisten innerhalb der Szene internationale Aufmerksamkeit ein. Die Straßenschlachten mit der Nationalgarde und  der Polizei gelten bis heute als Feuertaufe der lokalen autonomen Linken. Erst nach mehrerenTagen und dem Einsatz von Pfefferspray gelang es den Ordnungskräften, die über 40.000 Demonstranten wieder in den Griff zu bekommen. Die in den folgenden Jahren stattfindende politische Wählerwanderung zu radikalen Gruppen und Kandidaten in den Gemeinde- und Bezirkswahlen wird von Beobachtern wie dem US-Journalisten Chris Tomlinson auch auf Einflüsse aus Europa zurückgeführt: „Nach gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei überläßt die gemäßigte Linke der radikalen Linken das ideologische Schlachtfeld. Dort wird dann unwidersprochen das Narrativ eines unterdrückerischen Systems gezeichnet, dessen Repräsentanten die Polizisten sind. Das stand in Europa am Anfang der linksradikalen No-go-Areas. Genau das ist in Seattle 1999 passiert.“ 

Tatsächlich sind dieser Szene in den frühen Zweitausendern einige geschickte Schachzüge gelungen. Exemplarisch dafür steht etwa die Übernahme der gewerkschaftlichen Organisation des öffentlichen Nahverkehrs der Stadt. Die „Transit Riders Union“ (TRU) gilt selbst unter US-Gewerkschaftern als äußerst radikal. Unter den älteren Fahrern gilt es als offenes Geheimnis, daß der junge Nachwuchs seine Arbeit vor allem als klassenkämpferischen Auftrag versteht und weniger als Broterwerb. 

„Speerspitze einer neuen Solidargemeinschaft“

„Es ist Zeit für einen Systemwechsel“, bestätigt auch der Busfahrer Derek F. die Ausrichtung der Gewerkschaft. „Ich sehe unsere Gewerkschaft als Speerspitze einer neuen Gesellschaft der Solidarität und Freiheit.“ So kam es auch für die Einwohner der Stadt nicht überraschend, daß die TRU bereits zwei Tage nach der Ausrufung der Chaz effektiv den Transport von Polizei und Ordnungskräften mit öffentlichen Transportmitteln unterband. Man werde „den Transport von Repressionsorganen“ verunmöglichen, so der Sprecher der Gewerkschaft. Ein Schlag ins Gesicht für viele Polizisten in der ganzen Metropolregion. Viele von ihnen wurden in den vergangenen Jahren durch hohe Mieten aus der Innenstadt verdrängt und sind nun auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Von ihrem Dienstherren erhalten sie dabei keine Rückendeckung. Im Gegenteil, der Räumung der Polizeiwache ging eine direkte Dienstanweisung des Bürgermeisters voraus, keine Waffen, gleich welcher Art, gegen die Demonstranten einzusetzen. 

Die demokratische Bürgermeisterin Jenny Durkan setzt auf eine Politik der offenen Hand. Das erparte ihr jedoch nicht den Anblick maskierter Protestler, die am Tag nach der Räumung in ihrem Büro vorstellig wurden und ebenfalls ihren Abschied forderten. Polizeikräfte werden seitdem in der Region rund um die Chaz nur noch selten gesehen. Tomlinson hält die kommunalen Entscheidungsträger, die auf einen Dialog mit den Besetzern hoffen, für naiv: „Mit der Chaz hat die US-Antifa das europäische Prinzip der besetzten Stadtteile in die USA übertragen. Die werden hier nicht wieder gehen. Das ist jetzt die US-amerikanische Rote Flora.“