© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Der kommende Neo-Feudalismus
BigTech-Konzerne: Eine marktbeherrschende Elite monopolisiert jede Scholle der digitalen Welt / Droht eine Verarmung der Mittelschicht?
Björn Harms

Für die großen BigTech-Unternehmen könnte es derzeit kaum besser laufen. Während die Volkswirtschaften weltweit straucheln, profitieren sie massiv von der anhaltenden Corona-Krise.

Die Menschheit sitzt zu Hause, das Internet wird zum alles dominierenden Handelsplatz. Noch während der Lockdown-Maßnahmen schrieb der Onlinehänder Amazon in mehreren Ländern neue Stellen aus – in den USA zunächst 100.000 Arbeitsplätze, später weitere 75.000. In Deutschland sollen ab Herbst 2020 mehrere neue Versandzentren entstehen. Auch Facebook plant, einen Online-Handel aufzubauen.

Von einer neuartigen Entwicklung kann jedoch kaum die Rede sein: „Die Corona-Pandemie hat Veränderungen beschleunigt, die sich bereits zuvor in der gesamten Gesellschaft vollzogen haben“, stellte der Politologe Zac Rogers vor zwei Wochen auf dem Wissenschaftsblog The Conversation fest. „Vom Lernen und Arbeiten aus der Ferne über elektronische Gesundheitssysteme, Versorgungsketten und Logistik bis hin zu Polizeiarbeit oder Sozialsystemen – große Technologieunternehmen haben keine Sekunde gezögert, das Beste aus der Krise zu machen.“

„Jede Firma wird eine KI-Firma werden müssen“

IBMs neuer Chef Arvind Krishna bestätigt den Gedanken. „Die Geschichte wird auf die Pandemie zurückblicken als den Moment, in dem sich die digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft plötzlich beschleunigte“, erklärte er Anfang Mai auf der IBM-Konferenz „Think Digital 2020“. Vor mehr als 20 Jahren hätten Experten vorausgesagt, daß jedes Unternehmen ein Internet-Unternehmen werden würde. „Ich sage heute voraus, daß jede Firma eine KI-Firma werden wird, nicht weil sie es können, sondern weil sie es müssen.“

In New York leitet der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt derzeit ein Gremium, das sich mit der Umgestaltung der Stadt nach der Pandemie befaßt. Die Schwerpunkte liegen auf Telemedizin, Fernlernen und Breitbandausbau. Schmidt selbst hatte bereits in einem Memorandum zur Corona-Krise Anfang Mai eine positive Entwicklung der Tech-Riesen in der Krise vorausgesagt: „Wenn man einen Branchenführer hat und etwas zusammenbricht, neigt der Branchenführer dazu, wenn er gut geführt wird, ein Jahr später gestärkt daraus hervorzugehen.“

Der 67jährige Joel Kotkin, laut der New York Times „Amerikas Super-Geograph“, hat diese Entwicklung ebenfalls schon länger im Blick. Gerade erst hat der Professor für Stadtforschung an der Chapman-Universität in Kalifornien mit seinem neuesten Buch „Der kommende Neo-Feudalismus – eine Warnung an die globale Mittelschicht“ eine hitzige Debatte um die Gesellschaft der Zukunft angestoßen.

Seine Grundthese: Nach einer erfolgreichen Phase der sozialen Marktwirtschaft, die für eine gerechte Verteilung von Reichtum und Chancen gesorgt hat, kehren wir nun in eine feudale Epoche zurück, die durch eine vermehrte Konzentration von Reichtum und Besitz sowie eine geringere Aufstiegsmobilität gekennzeichnet ist – den Neo-Feudalismus.

Diese neue Gesellschaftsstruktur ähnele der des Mittelalters. An der Spitze der neuen Ordnung stehen zwei Klassen: ganz oben eine Aristokratie, die von Tech-Oligarchen mit beispiellosem Reichtum und wachsender Kontrolle über Informationen geführt wird. Allen voran sind dies die sogenannten Gafam-Unternehmen, deren primäres Geschäft die Daten ihrer Nutzer sind: Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft.

Im zweiten Stand findet sich eine Art Klerus, der den oberen Teil der beruflichen Ränge sowie die Universitäten, die Medien, die Politik und die Kultur dominiert. Über gemeinsame Werte sichert dieser die kulturelle Einheit des Ganzen. „Der Klerus versucht, die bürgerlichen Werte der Selbstbestimmung, Familie, Gemeinschaft und Nation durch ‘progressive’ Ideen über Globalismus, ökologische Nachhaltigkeit, neu definierte Geschlechterrollen und die Autorität von Experten zu ersetzen“, schreibt Koktin. Unterstüzt werde das durch die Kontrolle der neuen Oligarchie über die Informationstechnologie.

Unterhalb dieser beiden Klassen liegt das, was einst als der Dritte Stand bezeichnet wurde. Heute ist es eine schrumpfende Mittelschicht: Kleinunternehmer, kleinere Grundbesitzer, Facharbeiter und privatwirtschaftlich orientierte Fachleute oder Bauern mit Besitz. Diese über weite Strecken der modernen Geschichte aufsteigende Klasse sei im Niedergang begriffen, während ihre Untergebenen, „die neuen Leibeigenen“, wie Kotkin sie nennt, zahlenmäßig anwachsen – eine riesige, besitzlose Bevölkerung.

Schon der Technologie-Milliardär Nick Hanauer hatte kurz nach der Finanzkrise 2008 ein düsteres Bild der Zukunft gezeichnet. Die USA würden sich rasch zu „einer weniger kapitalistischen Gesellschaft als vielmehr zu einer feudalen Gesellschaft entwickeln“, warnte er. Im Juni 2014 prognostizierte Hanauer im Magazin Politico Unruhen, die sich gegen ihn und andere Personen der 0,1 Prozent der reichsten Menschen in den USA wenden würden, wenn die Welt das Problem der ungleichen Konzentration des Wohlstands nicht in den Griff bekäme. Damals diagnostizierte er eine Zerstörung der Mittelschicht. 

Der „Bericht zur weltweiten Ungleichheit“ von 2018 bestätigte seine These. Erstmals hatten Wirtschaftswissenschaftler untersucht, wie sich das Wachstum des globalen Einkommens seit 1980 auf die Gesamtheit der Weltbevölkerung verteilte. Der Anteil des weltweit obersten einen Prozents am Gesamteinkommen wuchs demnach zwischen 1980 und 2016 von 16 auf 22 Prozent – Tendenz steigend. Die weltweit unteren 50 Prozent stagnieren seit 1980 bei rund neun Prozent des Einkommens. Entscheidend sei dabei: „Die globale Mittelschicht wurde zusammengedrückt“, schreiben die Autoren. 

Auch der Ökonom Max Otte zeigt sich im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT alarmiert: „Die Mittelklasse in den ‘alten’ Industrienationen des Westens implodiert“, sagt er. „Das ist die Konsequenz des real existierenden Finanzkapitalismus.“ Gerade superreiche Finanzmarktpraktiker wie Warren Buffett und Ray Dalio hätten darauf hingewiesen, daß „der Kapitalismus aktuell versagt, eine faire Gesellschaftsordnung herzustellen“. Es sei „eine neue Klasse der Superreichen entstanden, die durch eine lobbyabhängige Funktionskaste in der Politik und das Management der Konzerne getragen wird“, so Otte. „Joel Kotkin hat recht“, ist er sich sicher. „Wir nähern uns neofeudalen Zuständen.“

Einst war das Internet frei wie der „Wilde Westen“

Dabei galt gerade der Technologie-Sektor ursprünglich einmal als Hort des freien Wettbewerbs. Die Bilder des Selfmade-Mannes Bill Gates in seiner Garage gingen um die ganze Welt. Heute nutzen über 80 Prozent aller privaten Rechner weltweit Microsoft-Programme. Google kontrolliert fast 90 Prozent der Werbung bei Suchanfragen, Facebook fast 80 Prozent des mobilen sozialen Datenverkehrs. Auf Amazon entfallen rund 40 Prozent des Internet-Handels. Diese Marktmacht hält an: Startup- Unternehmen mit neuen Ideen werden von den großen Konzernen direkt vom Markt gekauft, so daß sie nicht mehr frei wachsen können. Facebook schluckte in den vergangenen Jahren auch größere Konkurenten wie WhatsApp, Instagram oder Oculus.

Gleichzeitig ist auch innerhalb der Großkonzerne wenig Platz für sozialen Aufstieg. Der US-Autor Gregory Ferenstein hatte für eine Studie 147 digitale Gründer nach ihrer Mentalität befragt. Demnach seien die meisten der Ansicht gewesen, daß künftig „ein immer größerer Anteil des wirtschaftlichen Wohlstands durch eine kleiner werdende Schicht an Talenten“ erzeugt werde. Talent bedeutet in diesem Zusammenhang nicht besondere Wirtschaftskenntnisse oder Managerfähigkeiten zu haben, wie es die Ellenbogengesellschaft der alten Geschäftswelt präferierte, sondern: Kannst du programmieren, steht dir alles offen. „Microsoft muß den IQ-Krieg gewinnen oder wir haben keine Zukunft“, forderte Bill Gates 2005 im Forbes-Magazine.

Das entfacht gesellschaftlich seine ganz eigene Dynamik. „Die Zukunft der Politik wird sich um die Fähigkeit der herrschenden Stände drehen, die Unterwerfung der Dritten Stände zu sichern“, meint Joel Kotkin. Die Arbeitskraft der unteren Schichten sei zweitrangig, was zählt sind ihre Daten, „die Elektrizität des 21. Jahrhunderts“, wie es Jack Ma, Gründer des chinesischen Tech-Konzerns Alibaba, beschreibt. Deshalb plädiere die junge Tech-Generation – von Facebook-CEO Mark Zuckerberg bis Tesla-Chef Elon Musk – nicht zufälligerweise für einen starken Sozialstaat, ja teilweise sogar für ein bedingungsloses Grundeinkommen. 

Die Kosten für diesen „Oligarchensozialismus“ hätte die Allgemeinheit zu tragen, doch der Sinn dahinter werde schnell klar: „Die Umverteilung der Ressourcen würde die materiellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse und der untergehenden Mittelschicht befriedigen, aber sie würde weder die Aufstiegsmobilität fördern noch die Dominanz der Oligarchen bedrohen“, schreibt Kotkin.

Kaum verwunderlich also, daß ein großer Teil der unteren Schichten und des linksliberalen Bürgertums die Tech-Konzerne auch nicht als Gefahr sieht. Warum auch? Sie teilen nach außen hin dieselben Werte einer offenen Welt. Führende Manager der Tech-Industrie posteten auf ihren Social-Media-Kanälen unlängst zahlreiche Bilder von den „Black Lives Matter“-Demonstrationen. Diverse Konzerne überbieten sich gar mit Solidarisierungen mit der Bewegung.

Doch die Schwachstelle des Sytems tritt laut Kotkin immer offener zutage: die eigene Heuchelei. Vor 1789 hätten französische Aristokraten und Kleriker christliche Nächstenliebe gepredigt, „während sie sich der Völlerei, dem sexuellen Abenteurertum und der Verschwendung hingaben“. Heute steht eben die Vielfliegerin Luisa Neubauer mit Airpod-Kopfhörern im Ohr vor der Kamera und fordert die Menschheit auf, Verzicht zu üben. Genau aus diesem Geist speisten sich Bewegungen wie die Gelbwesten-Proteste, sagt Kotkin. Die Mittelschicht dürfe sich nicht aufgeben: „Widerstand gegen die Oligarchen zu leisten, ist der wichtigste Imperativ unserer Zeit.“