© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Verteidiger des Verlorenen
Nachruf: Der Kultautor Jean Raspail starb vorigen Samstag mit 94 Jahren
Konrad Markward Weiß

Zu Beginn des Jahres der stürzenden Denkmäler war Jean Raspail der erste große „alte weiße Mann“, der fiel. Von diesem Unfall sollte sich der Abenteurer und Verteidiger verlorener Sachen, Romancier und tiefgläubige Katholik, royalistische Grandseigneur und Generalkonsul eines imaginären Königreichs nicht mehr erholen.

Am Anfang seines langen Schaffens stand „ein Abenteuer, das über meine Existenz entschieden hat“: Der junge Franzose durchquert im Kanu über 4.500 Kilometer von Quebec bis zur Mündung des Mississippi die einstigen französischen Besitzungen in Nordamerika; rund um die Welt führt ihn alsbald seine damals erwachte Liebe zu untergehenden Kleinstvölkern und erlöschenden Lebensweisen, denen er am Ende des „nomadischen Teils seines Lebens“ mit „Die Axt aus der Steppe“ ein Denkmal setzt und festhält: „Ich sehne von ganzem Herzen eine Vervielfachung der Grenzen ad infinitum herbei, in deren Schutz die so kostbaren Unterschiede aufhören könnten zu schwinden“ – denn überall war der Verlust der eigenen Identität der Todeskeim gewesen.

Zurück in der Heimat erkennt er diesen auch dort und nimmt schon 1973 bis in kleinste sprachliche Nuancen Feigheit und Versagen der „Eliten“ und deren Neusprech des Jahres 2015ff. vorweg, als er in einem einzigen fiebrigen Guß sein Buch „Das Heerlager der Heiligen“ niederschreibt.

Raspails erfolgreichster Titel ist zugleich sein untypischster und überfährt ohne jede Romantik in seiner Drastik den Leser, statt ihn wie sonst zu erheben. Doch auch hier finden sich jene Leitmotive, die in seltenem Gleichklang das Werk des Schriftstellers wie das Leben des Mannes durchziehen: die unbeugsame Verteidigung des Eigenen, die kleine Schar, das Eintreten für die verlorene Sache und die vollständige Gleichgültigkeit gegenüber dem Zeitgeist, gegenüber der am Nasenring herumgeführten Masse. Diese Leitmotive variiert Raspail immer wieder, mit einem Stammpersonal an Figuren: „Kanaillen gibt es genug, und ich habe keine Lust, über solche auch noch zu schreiben. Ich will mich mit aufrechten Charakteren umgeben. Und wie es sich findet, sind diese Charaktere oft deutsch.“

Mit der heutigen Bundesrepublik hat sein Deutschland indes wenig gemein. Er verweist auf Marion Gräfin Dönhoffs ostpreußische Erinnerungen: „Wenn man das liest, kann man für einen Moment den Rest vergessen und der wiegt wahrlich schwer, und sich verneigen vor der Größe der Kämpfer und Zivilisten. Aber Deutschland vergißt seine Geschichte.“

Katholizismus und Königtum als Leitsterne 

Nicht so Raspail, der zudem eine schwärmerische Liebe zur „romantischen“ Konzeption und kleinteiligen Vielfalt des Heiligen Römischen Reiches pflegt, finden sich dort doch zwei weitere seiner Leitsterne: Zunächst, quer durch sein Werk und geballt in „Der Ring des Fischers“, das (katholische) Christentum, dem er tief verbunden war – allerdings in dessen heute als reaktionär gegeißelten, also eigentlichen Form. Gegenüber der nachkonziliaren Kirche unserer Tage, mitsamt ihrer Häresie der Formlosigkeit, kannte Raspail kein Pardon.

Dann: das Königtum. Ein einziges Mal hat Raspail bezeichnenderweise – dergleichen sonst gänzlich abhold – die Massen auf den Straßen mobilisiert, zur 200. Wiederkehr der Enthauptung Ludwig XVI.; 40.000 Menschen kamen zum Tatort auf der Pariser Place de la Concorde. Im Roman „Sire“ finden sich Raspails monarchische Überzeugungen verdichtet; und die Essenz dieses lebenslangen Träumers mit offenen Augen im königlich-patagonischen Spiel mit seinem Vierklang aus Stolz, Ironie, Zärtlichkeit und Melancholie. Es geht zurück auf Antoine de Tounens, einen französischen Provinzadvokaten, der im 19. Jahrhundert sein ganzes tragisches Leben der von Beginn an zum Scheitern verurteilten Idee verschrieben hatte, im eisigen Süden des südamerikanischen Kontinents die eingeborenen Stämme unter seinem Königtum zu vereinen. Diesem unglücklichen Orélie-Antoine I. setzt Raspail ein literarisches Denkmal, das ihm den Großen Preis der Académie française einbringt.

Vom Grab Antoines vernimmt er bald darauf augenzwinkernd die Berufung zum Generalkonsul Patagoniens; alsbald gehen, ohne jeden Aufruf, Abertausende Naturalisationsansuchen Raspail zu, den bisweilen nur traurig stimmt, daß bereits Kinder – mit mehr Ernst, als es dem Spiel geziemt – angesichts ihrer prosaischen Lebenswirklichkeit allzu früh Zuflucht und Identität in seinem unwirklichen Königreich suchen. „Sie sind ein Kind, Raspail“, hatte Jean Anouilh auch diesem einst voller Wertschätzung gesagt – und der Autor von über vierzig, vielfach preisgekrönten und übersetzten Romanen und Reiseberichten blieb es bis zum Ende ebenso wie ein großer Solitär und unbeugsamer Bewahrer.

„Es liegt eine gewisse Vornehmheit im Beharren. Gesellschaft hat man dort selten. Alle anderen kehren uns den Rücken. Sie haben kein Gesicht mehr. Die Menschen sind tot. Die sie ersetzen, entsetzen uns. Wir sprechen ihre Sprache nicht. Unsere Lagerfeuer erlöschen. Die Nacht ist blendend hell.“ Und Jean Raspail ist tot.