© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Netzwerker gegen den Dämon
Wie ein Generaloberst a. D. seine Lesart von der untadeligen Wehrmachtsführung etablierte
Dirk Glaser

Das Bild, das sich die westdeutsche und auch die internationale Öffentlichkeit bis in die 1970er hinein von der NS-Herrschaft und vom Zweiten Weltkrieg machte, wurde maßgeblich von hochrangigen Mitgliedern der reichsdeutschen Funktionseliten geformt. Berühmtes Beispiel dafür ist Adolf Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister Albert Speer, dem es gelang, sich in seinen Memoiren so überzeugend als apolitischen Technokraten zu inszenieren, daß die Freunde Wolf Jobst Siedler, sein Verleger, und Joachim C. Fest, dessen Hitler-Biographie, ein Welterfolg, sie kolportierte, erst nach des Verfassers Ableben zerknirscht erkannten: „Er hat uns belogen.“

Sich zwar weniger drastisch ausdrückend, erhebt der Historiker Paul Fröhlich im Kern den gleichen Vorwurf gegen Franz Halder (1882–1972), den von Hitler im September 1942 entlassenen Generalstabschef des Heeres (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1/2020). Der Generaloberst außer Dienst habe seit 1945 zunächst die US-Besatzungsmacht, nach Gründung der Bundesrepublik dann die historisch interessierte westdeutsche Öffentlichkeit kühl kalkuliert über seinen Anteil als Planer von Hitlers Kriegen genauso getäuscht und „manipuliert“ wie über die Verbrechen des Heeres während des Rußlandfeldzuges. 

Was ursprünglich gedacht war als Verteidigungsstrategie in den Nürnberger Nachfolgeprozessen, um der Anklage zu begegnen, der Heeres-Generalstab sei eine „verbrecherische Organisation“ gewesen, baute Halder seit 1949 zum apologetischen Geschichtsbild aus. Das einem Holzschnitt glich. Dessen helle Partien reservierte der Künstler für die Wehrmacht, die dunklen für den „Dämon“ Hitler. Hier das moralisch untadelige konservative Offizierskorps, die ritterlich fechtende Truppe, der dem Widerstand nahestehende General-stabschef Halder, dort der vermeintlich „größte Feldherr aller Zeiten“ (GröFaZ), ein militärischer Dilettant, der mit einer Kette von Fehlentscheidungen die Kriegsniederlage und den Untergang des Deutschen Reiches zu verantworten hatte.

Diese Interpretation sei derart wirkungsmächtig gewesen, daß Fröhlich resümieren darf, kein professioneller Historiker sondern ein pensionierter Militär rückte in der Adenauer-Ära zum „Doyen der deutschen Kriegsgeschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg“ auf, der seine Deutungshoheit lange behaupten konnte. Allerdings trat er dabei kaum in Erscheinung. Er habe als „Spinne im Netz“ die Fäden gezogen. Beim Weben seines Netzes half ihm während der ersten Besatzungsjahre die US-Armee. Deren Historical Division hatte im Januar 1946 eine deutsche Sektion im hessischen Allendorf eingerichtet, um mit Hilfe deutscher Ex-Offiziere Tonnen erbeuteter Akten auszuwerten. Mit dem Auftrag, daraus resultierende operative Wehrmachtserfahrungen im anhebenden Kalten Krieg den US-Streitkräften zufließen zu lassen. 

Halder faßte auch im akademischen Milieu Fuß

Halder, dessen von den Amerikanern beschlagnahmte „Aufzeichnungen“ aus seiner Zeit an der Spitze des Generalstabs (1938–1942) dort als Beweisdokument für das Nürnberger Tribunal übersetzt wurden, stieß im Herbst 1946 zu den 300 Wehrmachtsoffizieren der Allendorfer Control Group. Zunächst überwachte der von den Besatzern sehr geschätzte „Vater der deutschen Siege“ eine Studie über die Funktion und Struktur des Oberkommandos des Heeres, bald darauf übernahm er die Leitung der gesamten Studiengruppe. 

So avancierte Halder zur Schlüsselfigur der frühen Zeitgeschichtsschreibung. Mühelos machte er mit seinen Getreuen publizistisch mobil und faßte schnell im akademischen Milieu Fuß. Bereits 1951 erschien die Wehrwissenschaftliche Rundschau, Marine-Rundschau und Wehrtechnische Monatshefte ergänzten ab 1956 Halders vergangenheitspolitisches Arsenal. Die Schriftleitungen befanden sich ebenso fest in der Hand der Control-Group-Veteranen wie die Leitung des 1954 gegründeten Arbeitskreises für Wehrforschung, der neben vielen sonstigen Aktivitäten bestrebt war, den militärhistorischen Nachwuchs zu rekrutieren.

Mit Erfolg, denn einige später prominente Vertreter der ersten Generation westdeutscher Militärhistoriker, Walther Hubatsch, Andreas Hillgruber, Hans-Adolf Jacobsen, hätten sich „der apologetischen Argumentation Halders und dem Nachkriegsnarrativ der Offiziers-elite weitestgehend“ unterworfen, um im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs die Heeresspitze aus ihrer Verantwortung für den Vernichtungskrieg im Osten zu entlassen. Als ultrakonformistisch erwies sich dabei Jacobsen, den Halder darum auserkor, um sein „Kriegstagebuch“ zu edieren, jene zuerst in Nürnberg verwendeten „Aufzeichnungen“, die zwischen 1962 und 1964 in drei Bänden herauskamen. 

In einer lediglich exemplarisch möglichen Quellenkritik – der Nachlaß des 2016 verstorbenen Jacobsen ist gesperrt – versucht Fröhlich nachzuweisen, wie gehorsam der Editor im Bann Halders verharrt. Da der sich nach 1945 als Warner vor Hitlers „russischem Abenteuer“ stilisierte, mußte Jacobsen dessen brisante Notizen über seine „Anregungen“ zum Ostkrieg bereits im Sommer 1940 ebenso kommentierend entschärfen wie zustimmende Passagen zur Strategie des Vernichtungskrieges. Er habe an dieser apologetischen Praxis fortan festgehalten, denn 1964 fertigte er mit anderen das berühmte Gutachten „Kommissarbefehl und Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener“ an, das zum Ergebnis kam, Radikalisierung und Ideologisierung der deutschen Kriegführung im Osten gingen nahezu exklusiv auf Hitlers Konto, während das Oberkommando des Heeres gegen die völkerrechtswidrigen Befehle opponiert habe.

Kollektives Gedächtnis der Nachkriegszeit beeinflußt

Fröhlichs Untersuchung rekonstruiert mit „Halders Netzwerk“ logistisch notwendige Voraussetzungen, um das kollektive Gedächtnis der Nachkriegszeit zu beeinflussen. Warum dessen Deutungsangebote auf so breite Akzeptanz traf, was Halder über Apologie hinaus anstrebte, darüber reflektiert Fröhlich kaum. Abgesehen von einem Hinweis auf dessen Ehrgeiz, mit der Legende von der „sauberen Wehrmacht“ die Traditionsbildung der jungen Bundeswehr zu fördern. 

Daher vertieft er sich nicht in die auch Halders „Mystifizierungen“ grundierende Lesart von Jacobsens Doktorvater Percy Ernst Schramm, dem auch als Zeithistoriker brillierenden Göttinger Mediävisten und einstigen Kriegstagebuchführer im OKW. Danach endete die NS-Diktatur in der allein von Hitler verschuldeten Katastrophe. Schramm, wie dessen von Fröhlich ignorierter Biograph David Thimme betont, habe den Historiker stets auch als nationalpädagogischen Stifter positiver Identitätsmythen begriffen. Aufgrund der Weltkriegsgeschichte die Deutschen als Schuldkollektiv auf den mit Reemtsmas Anti-Wehrmachtsschau 1995 etablierten Gegenmythos eines Verbrechervolks zu reduzieren, wäre Schramm wissenschaftlich wie moralisch absurd erschienen. 

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