© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Vater der deutschen Militärgeschichte
Vor hundert Jahren erscheint in Berlin der letzte Band der „Geschichte der Kriegskunst“ von Hans Delbrück
Jürgen W. Schmidt

Im Januar 1920 erschien im Verlag Georg Stilke in Berlin, welcher auch die Preußischen Jahrbücher herausbrachte, der vierte und letzte Band der „Geschichte der Kriegskunst“ von Hans Delbrück. In diesem Band handelte der Verfasser die Kriegskunst von der Renaissance bis zur Neuzeit, vom Beginn „stehender Heere“ bis zu den „Volksheeren“ der Neuzeit ab. 

Der am 11. November 1848 in Bergen auf Rügen als Sohn eines Kreisrichters geborene Historiker Hans Delbrück war ein sehr kenntnisreicher Mann und wurde von Heinrich von Sybel 1873 mit einer Dissertation über die historische Glaubwürdigkeit des umstrittenen mittelalterlichen Chronisten Lampert von Hersfeld promoviert. Seit 1883 gab er gemeinsam mit Heinrich von Treitschke die Preußischen Jahrbücher heraus und setzte diese Tätigkeit nach dem Ausscheiden Treitschkes als Herausgeber bis 1919 allein fort. 

Dem Hohenzollernhaus stand der familiär gut vernetzte Monarchist Hans Delbrück nahe und fungierte von 1874 bis 1879 als Erzieher des Prinzen Waldemar, eines Sohnes des späteren Kaisers Friedrich III. Doch galt das historische Interesse Delbrücks, der militärische Erfahrungen durch Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als Kriegsfreiwilliger bei den Greifwalder Jägern, später als Leutnant der Reserve sammelte, zunehmend dem damals noch nicht an den Universitäten etablierten Fach der Militärgeschichte. Auslöser soll dabei seine Lektüre von Wilhelm Rüstows (JF 43/15) „Geschichte der Infanterie“ gewesen sein, der gleich Delbrück einst preußischer Offizier war und als Historiker stets ein Außenseiter blieb. 

Deutsche Universitätshistoriker hielten dies damals für ein reines Spezialfach, das man lieber den dafür profilierten Offizieren überlassen solle. Außerdem galt die Beschäftigung mit Militärgeschichte in historischen Kreisen noch als so inferior, daß namhafte Historiker der Universität Berlin wie Theodor Mommsen, Heinrich von Treitschke und Wilhelm Wattenbach Delbrück eine Habilitation für das Fachgebiet Militärgeschichte verweigerten. Delbrück mußte sich also in „allgemeiner und politischer Geschichte“ habilitieren, legte sich aber trotzdem, insbesondere als er nach Treitschkes Tod dessen Berliner Professur für Weltgeschichte übernahm, voll auf die Militärgeschichte und publizierte rege Bücher und aufsehenerregende Aufsätze. Zuvor bekleidete er als Abgeordneter ein Mandat im Preußischen Abgeordnetenhaus, und zwischen 1884 bis 1890 war er Mitglied des Reichstages, wo der Konservative mit reformerischen Ideen erschreckte..

Während man in der zivilen akademischen Welt allmählich anerkannte, was Delbrück leistete, wenn er die Militärgeschichte mit der politischen und auch Wirtschaftsgeschichte enger zusammenführte und quellenkritisch die gebräuchlichen hohen Zahlenangaben über Heeresstärke und Schlachtverluste im Altertum und Mittelalter auf reale Zahlen zurückführte, so entstand Delbrück zur selben Zeit ein neuer Feind. 

Bei den Generalstäblern nicht wohl gelitten

Die zu Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabes jäh aufblühende Geschichtsschreibung durch Generalstabsoffiziere geriet sogleich in einen heftigen Methoden- und Sinnkonflikt mit Delbrück, den sogenannten „Strategiestreit“. Delbrück hatte nämlich als erster zwischen sogenannter „Vernichtungsstrategie“ und „Ermattungsstrategie“ unterschieden, welch letztere Friedrich der Große nach Delbrücks Meinung namentlich in den Schlußjahren des Siebenjährigen Krieges erfolgreich anwandte, während Napoleon für Delbrück ein eindeutiger „Vernichtungsstratege“ war. Das konnten natürlich die Friedrich den Großen verehrenden und heftig verteidigenden preußischen Generalstabshistoriker nicht unwidersprochen lassen, und so stand Delbrück zeitlebens zwischen zwei Feuern.

Einerseits lehnten immer noch viele zivile Universitätshistoriker seine Konzeption von der „Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte“ ab, andererseits verwahrten sich die Generalstäbler energisch dagegen, von einem simplen Reserveleutnant über Strategie belehrt zu werden. Der am 14. Juli 1929 in Berlin verstorbene Hans Delbrück blieb folglich zeitlebens ein Außenseiter in der historischen Zunft und war fortdauernd mit der Abwehr von Polemik bezüglich seiner Schriften beschäftigt. Doch ungeachtet dessen erfreut sich Delbrücks Hauptwerk „Geschichte der Kriegskunst“ in vier Bänden beständig neuer Auflagen und ist zu einem wahren Klassiker der Militärgeschichtsschreibung geworden. 

Dem mußte seinerzeit sogar zähneknirschend der einstige Chefmilitärhistoriker Stalins, Generalmajor J. Rasin, in seiner sechsbändigen, erstmals 1955 in Moskau erschienenen „Geschichte der Kriegskunst“ Rechnung tragen. Obwohl sein Werk eine einzige heftige Auseinandersetzung mit Delbrück ist, dem er vorwirft, aus rassistischen Gründen den Anteil der Slawen und insbesondere derRussen an der Entwicklung der Kriegskunst zu unterschlagen, stützt er sich in seinem Fakten- und Zahlengerüst doch immer wieder auf Hans Delbrück.