© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

„Unterstützt die Qing, vernichtet die Fremden“
Das Attentat auf den deutschen Gesandten in Peking und die Niederschlagung des Boxeraufstandes 1900
Alexander Graf

Am 20. Juni 1900 verließ der deutsche Gesandte in Peking, Clemens von Ketteler, nach Gesprächen das dortige Botschaftsviertel. Auf seinem Weg kam er an einem chinesischen Wachposten vorbei. Der Soldat des mandschurischen Regiments erschoß den Diplomaten aus nächster Nähe. 

Der Mord, dessen genaue Umstände bis heute ungeklärt sind, war nur eine weitere Gewalttat gegen Ausländer im Reich der Mitte. Seit Monaten hatten Angriffe gegen Nichtchinesen und einheimische Christen zugenommen. Verantwortlich dafür waren die Yihequan, die „Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie“, wie sich der Geheimbund nannte. In Europa gingen sie unter dem Namen Boxer in die Geschichte ein. Ihr Ziel war es, die Kolonialmächte aus China zu vertreiben. Dazu griffen sie zu den Waffen und zettelten einen Krieg an, der die damaligen Weltmächte auf den Plan rief. 

Unmittelbar nach der Ermordung des deutschen Gesandten begannen die Boxer mit der Belagerung des Botschaftsviertels in der chinesischen Hauptstadt. Dort verschanzten sich etwa 500 bewaffnete Ausländer und 20.000 zumeist christliche Chinesen. 

Die Kampfhandlungen in Peking waren der Höhepunkt einer jahrelangen krisenhaften Entwicklung, die durch mehrere Faktoren befeuert wurde. Seit den Niederlagen in den Opiumkriegen gegen England und Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts war China gezwungen worden, sich immer stärker den ausländischen Kolonialmächten zu öffnen. Zudem hatte das Selbstbewußtsein des Landes durch die verlorenen Kriege enorm gelitten. Das verstärkte den Fremdenhaß der Chinesen, der sich auch gegen christliche Konvertiten wendete. Der US-Amerikaner Arthur Smith, der Zeuge des Boxeraufstands wurde, merkte an: „Für die Abneigung eines Chinesen gegenüber einem Nichtchinesen reicht es, daß er kein Chinese ist.“ 

Chinesische Kaiserwitwe unterstützte die Rebellion

Zu den rassistischen Motiven mischten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert wirtschaftliche Gründe. So war besonders der Norden Chinas mit den Provinzen Shandong, Jiangsu und Hebei am Unterlauf des Gelben Flusses von Naturkatastrophen betroffen, was die wirtschaftlichen Probleme in der Region verstärkte. Hinzu kam die Überschwemmung des einheimischen Marktes mit ausländischen Billigwaren. 

In den Provinzen waren die traditionellen Kampfkünste noch weit verbreitet. Ursprünglich dienten sie der Landbevölkerung zur Verteidigung gegen Banditen. In der Zeit vor dem Ausbruch des Boxeraufstands vermischten sich dort die wirtschaftlichen Probleme mit Fremdenhaß und dem Glauben an die eigene Überlegenheit zu einem geistigen Amalgam. Dabei fungierte der anti-westliche Haß als Triebfeder des sich anbahnenden rassistischen Religionskrieges. 

So sammelten sich unter dem Banner der Boxerbewegung die Unzufriedenen, die in den Vertretern der Kolonialmächte – allen voran den Missionaren – und chinesischen Konvertiten die Schuldigen für ihre Misere sahen. Da auch die Regentin, die Kaiserwitwe Cixi aus der Qing-Dynastie, die Bewegung unterstützte, zogen die Aufständischen unter der Parole „Unterstützt die Qing, vernichtet die Fremden“ in den Kampf. 

Die westlichen Kolonialmächte England, Frankreich, USA, Rußland, Italien, Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich und auch Japan hatten die Regentin zuvor aufgefordert, gegen die Boxer vorzugehen. Doch am 21. Juni, einen Tag nach der Ermordung Kettelers, erließ sie ein Edikt, das einer Kriegserklärung gleichkam. Da auch reguläre chinesische Truppen mit den Boxern zusammen kämpften, war der Schulterschluß vollzogen. 

Im Gegensatz zu den ausgebildeten Soldaten vertrauten die Yihequan jedoch mehr auf Magie als auf moderne Ausrüstung. In strikter Ablehnung ausländischer Produkte setzten sie statt auf Gewehre und Kanonen auf ihre Schwerter und Lanzen. Nicht zuletzt dieser Umstand sollte zum Scheitern der Bewegung führen. 

Ausgehend von einer langen Tradition, Magieglauben und in Verbindung mit der Boxerkampftechnik, glaubten die chinesischen Kulturkämpfer, unverwundbar zu sein. Da besonders fähige Anhänger der Kampfkünste unempfindlich gegen Schläge und Klingen wurden, übertrug man dies auch auf die Waffen der fremden Soldaten, was sich bald als fataler Irrtum erwies. Das zeigte sich beim Aufeinandertreffen mit den Truppen der Kolonialmächte, wenn die Boxer im Kugelhagel zusammenbrachen. Mit Erklärungen für das Versagen der Magie waren die jeweiligen Kommandanten schnell zur Stelle und dabei auch durchaus kreativ. So sagten sie, daß die getöteten Kämpfer nicht vollkommen von den übernatürlichen Kräften besessen gewesen seien. Eine andere gängige Ausrede war der schädliche Einfluß von Frauen, welcher die Magie behindere.

Schon vor der Ermordung Kettelers hatten Kolonialmächte unter dem Kommando der Briten gegen die Aufständischen gekämpft. Dabei waren ihnen erste Erfolge gelungen, wie die Eroberung des Dagu-Forts am 17. Juni. Doch noch fehlte die nötige Truppenstärke, um nach Peking zu marschieren. 

Das Bündnis der Kolonialmächte machte sich daran, ein internationales Expeditionskorps nach Fernost zu schicken. Wegen der Bluttat gegen einen deutschen Diplomaten bestand das Deutsche Reich auf eine Führungsrolle in dem Unternehmen. 

Am 27. Juli verabschiedete Kaiser Wilhelm II. in Bremerhaven seine Soldaten und gab ihnen jene verhängnisvollen Worte mit auf den Weg, die das Negativbild der Deutschen prägen sollten. „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. (…) Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“ 

Noch bevor die kaiserlichen Truppen eintrafen, hatte sich das Blatt in China zugunsten der Europäer und der Japaner gewendet. Nach der Einnahme Tianjins am 13. Juli flauten die Kämpfe im Norden des Landes bereits ab. Der Weg für die internationale Truppe nach Peking war frei. Die Stadt wurde am 14. August entsetzt und die Belagerten im Gesandtschaftsviertel wurden gerettet. Die siegreichen Einheiten plünderten daraufhin die Stadt für drei Tage. Der deutsche Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee notierte, solche Verwüstungen seien seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr vorgekommen. 

Sieger legten China harte Bedingungen auf

Als das deutsche Kontingent eintraf, fühlten sich seine Angehörigen um ihren Ruhm bei der Niederschlagung der Rebellion betrogen. Wohl aus Enttäuschung darüber versuchten sie sich nun bei den anstehenden Strafexpeditionen besonders hervorzutun und töteten dabei echte und vermeintliche Boxer. Daraus jedoch einen organisierten Massenmord abzuleiten, wie es einige Historiker tun, wäre jedoch falsch. Die Taten entstanden vielmehr aus eigenmächtigem Vorgehen der betreffenden Einheiten. 

Die siegreichen Nationen zwangen China im sogenannten Boxerprotokoll, das am 7. September 1901 unterzeichnet wurde, harte Bedingungen auf. Neben Reparationszahlungen von 1,4 Milliarden Goldmark verhängten sie ein Waffen-

importverbot über das Land. und eine Delegation mußte sogar für öffentliche Demutsbekundungen nach Deutschland an den Kaiserhof reisen. 

Eine weitere Konsequenz des gescheiterten Aufstands war die Stationierung ausländischer Truppen im Reich der Mitte. Das Ziel der Yihequan, eine Vertreibung oder Vernichtung der Ausländer, war damit völlig gescheitert.