© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Der Flaneur
Keine Chefvisite mehr
Bernd Rademacher

Heiners Eltern waren schon lange tot. Im Elternhaus, in dem er wohnte, schien die Nachkriegszeit stehengeblieben zu sein. Heiner war ein Sozialfall und konnte wegen verschiedener Erkrankungen nicht arbeiten. Mit den meisten Tätigkeiten wäre er aber wohl auch geistig überfordert gewesen.

Das hielt ihn nicht davon ab, einem dauernd ungefragt irgendwelche „Gefallen“ zu tun und dafür nach Entlohnung zu fragen. Mal hatte er die Mülltonne nach der Leerung wieder in den Verschlag zurückgestellt, mal hatte er angeblich verdächtige Jugendliche vom Grundstück verscheucht. Dafür forderte er regelmäßig einen Zehner oder ein Päckchen Zigaretten, am liebsten Reval ohne Filter. „Oh, Chefvisite“, sagten wir, wenn er ankam, in Anlehnung an Kult-Schnorrer Dittsche aus der gleichnamigen Fernsehserie.

Der Betrieb gegenüber beschäftigte ihn aus reiner Fürsorge als Faktotum. Man sah ihn auf dem Hof Unkraut spritzen oder das Firmenauto waschen. Manchmal durfte er mit dem großen Ami-Pick-up Teile holen oder ausliefern.

Ich wunderte mich, daß er bei dem guten Wetter nicht wie üblich auf seinem Balkon stand.

Weil er dauernd auf seinem Eckbalkon stand und jeden ansprach, hatte er viel sozialen Kontakt. Gerne versuchte er, einen mit einem Scherz hochzunehmen, kapierte aber nie, daß er selbst oft veräppelt wurde.

Das war auch besser so, denn wenn er merkte, daß man ihn verarschte, konnte er jähzornig werden, und er hatte seine kolossalen Kräfte nicht immer unter Kontrolle. Das war schon früher so, als an Stelle des Häuserblocks noch ein Bolzplatz war. Tanzte ihn ein Dribbelkönig mal zu lange aus, dauerte es nicht lange, bis Heiner ausrastete und den Ballkünstler in rasender Wut vermöbelte.

Ich wunderte mich schon, daß er bei dem guten Wetter nicht wie üblich auf seinem Balkon stand und vorbeikommende Nachbarn anquatschte und sich auch schon länger keinen Zehner mehr abgeholt hatte. Dann erfuhr ich, daß man ihn vor mehreren Tagen tot in seiner Wohnung fand. Traurig, daß er ganz alleine starb.