© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

„Ein komplettes Desaster“
Dax-Konzern: Der Wirecard-Skandal offenbart das Versagen von Wirtschaftsprüfern und Finanzaufsicht
Marc Schmidt

Als Jürgen Schneider vor 25 Jahren in Miami festgenommen wurde, fehlten Handwerkern und Banken 5,4 Milliarden D-Mark. Auf der anderen Seite der Bilanz standen aber liebevoll sanierte Spitzenimmobilien in Frankfurt, Leipzig oder München, die noch heute genutzt werden. Der Baulöwe saß dafür bis 1999 in Haft – die angeblich gutgläubigen Bankmanager kamen hingegen mit dem Schrecken davon. Schließlich sei es dabei nur um „Peanuts“ gegangen, wie Deutsche-Bank-Chef Hilmar Kopper befand.

Was bleibt hingegen von der Wirecard AG? Einer „New Economy“-Firma, die 2006 in den MDax aufstieg und 2018 die Commerzbank aus dem Dax-30 verdrängte? Bleibt mehr als der häßliche Zweckbau in Aschheim bei München? Von der Schadenhöhe wäre der Skandal mit der Schneider-Pleite vergleichbar: Mindestens 1,9 Milliarden, ein Drittel des Bilanzvolumens von 2018, sollen verschwunden sein – oder nie existiert haben. Hatte also der Financial Times-Reporter Dan McCrum doch recht, als er 2019 von Fake-Kunden, zwielichtigen Geschäftspartnern, seltsamen Buchungen und irrwitzigen Firmenkäufen berichtete?

Am 12. Februar wurde die Wirecard-Aktie bei 144 Euro notiert, am 17. Juni waren es noch 104 Euro – fünf Tage später nur noch 14 Euro. Zuvor hatten die Ratingagenturen die Aktie um sechs Stufen auf Ramsch abgestuft, ein wohl einmaliger Vorgang in der Dax-Geschichte. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) hatten zuvor Wirecard das Testat für den Jahresabschluß verweigert. Wirecard mußte zum vierten Mal die Veröffentlichung der Geschäftszahlen für 2019 verschieben, was an der Börse Panikverkäufe auslöste. Firmengründer Markus Braun trat am 19. Juni zurück, wurde am Dienstag verhaftet und für fünf Millionen Euro Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt. Seinem Freund und Vorstandspartner Jan Marsalek wurde fristlos gekündigt.

Schuld sind dabei weder die 5.000 Mitarbeiter noch das Finanzdienstleistungsportfolio für angeblich 313.000 Partnerfirmen. Müßte Wirecard seine Arbeit insolvenzbedingt einstellen, hätte dies erhebliche Folgen im Einzel- wie im Onlinehandel. Dies weiß der neue Interimschef James Freis. Der Harvard-Absolvent war ursprünglich als Vorstand für das neue Wirecard-Ressort „Integrity, Legal and Compliance“ von der Deutschen Börse AG abgeworben worden.

„Eine Schande, daß so etwas passiert ist“

Nun stehen vier große Aufgaben für Freis an: Die Beruhigung der Märkte und der Mitarbeiter, die Verhandlungen mit den geldgebenden Banken und die Aufklärung dessen, was nach zahlreichen überstandenen Skandalen die Existenz der Wirecard AG und ihrer Tochter, der Wirecard Bank AG bedroht: die Posse von einem Dax-Konzern, unter anderem spezialisiert auf das Aufdecken betrügerischer Zahlungen, der angeblich einem einzigen Treuhänder 1,9 Milliarden Euro zur Einzahlung auf Konten philippinischer Partnerbanken gegeben hat. Diese erklären unisono mit der philippinischen Zentralbank BSP, das Geld nie erhalten zu haben, entsprechende Nachweise seien gefälscht. Der Treuhänder behauptet, nichts falsch gemacht zu haben.

Die hochbezahlten Wirtschaftsprüfer und die deutsche Finanzaufsicht (Bafin) ist nun kleinlaut: „Das ist ein komplettes Desaster, das wir da sehen, und es ist eine Schande, daß so etwas passiert ist“, meint Bafin-Präsident Felix Hufeld, der 2013 aus der privaten bayrischen Finanzindustrie abgeworben wurde. „Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe.“ Dabei hätte Hufelds Bafin längst Grund gehabt, Wirecard genauer zu kontrollieren. Statt dessen wurde gegen die kritischen Financial Times-Journalisten Dan McCrum und Stefania Palma sowie gegen Börsenhändler wegen des „Verdachtes der Marktmanipulation“ ermittelt – hatten doch Spekulanten in zeitlicher Nähe zu negativen Medienberichten auf stark fallende Wirecard-Kurse gewettet.

Wirecard-Chef Freis werden Aussagen zugeschrieben, er werde dieses Thema zu einem Punkt in den anstehenden Verhandlungen mit den Hausbanken machen. Als eine seiner ersten Amtshandlungen holte sich Freis für diese Gespräche die Unterstützung der kalifornischen Investmentbank Houlihan Lokey. Dies ist kein gutes Zeichen für die Wirecard-Beschäftigten, denn die Amerikaner gelten als erbarmungslose Sanierer. Hauptargument von Freis dürfte sein, daß eine unkontrollierte Wirecard-Pleite die kreditgebenden Banken zusätzliche Verluste bei den Wirecard-Kunden kosten könnte. Entsprechend haben Bankkreise bereits durchblicken lassen, Wirecard konsolidieren zu wollen, wobei die hierfür geforderten Zinsen aber deutlich steigen dürften.

Für die Wirecard-Aktionäre bleibt nur Fassungslosigkeit über die mutmaßliche Naivität des nicht mehr amtierenden Top-Managements um Braun &Co. Zwar hat auch der ehemalige Wirecard-Chef allein durch den Kurssturz der vergangenen Tage Millionenverluste erlitten. Doch Mitleid verdienen eher die zahlreichen Privatanleger in Dax-Werte – und die Mitarbeiter eines der bekanntesten deutschen Technologie-Unternehmens, das das Platzen der „New Economy“-Blase vor zwei Jahrzehnten überlebt hatte. Die Aufklärung in Sachen Wirecard wird sicher noch Monate dauern. Angesichts des Chaos im Finanzwesen eines der größten Finanzdienstleister der Welt bleibt als einzig ziemlich sichere Erkenntnis: Die Wirecard-Aktien werden das Corona-Vorkrisenniveau kaum wieder erreichen.

Financial Times-Journalist Dan McCrum:

 twitter.com/fd

 www.wirecard.com/de





Finanzdienstleister Wirecard

Die 1999 in Aschheim bei München gegründete Wirecard AG ist ein international tätiger Dienstleister im elektronischen Zahlungsverkehr. 2006 kam die Wirecard Bank AG hinzu. Das Dax-Unternehmen hat 26 Standorte in Europa, Asien, Afrika und Amerika. Über verschiedene Plattformen werden Dienstleistungen in den Bereichen digitaler Zahlungsverkehr, Einzel- und Onlinehandel, Bank- und Transaktionsgeschäfte sowie Zahlungen und Bonusprogramme angeboten. Seit 2017 schwankte der Aktienkurs stark, meist aufgrund von Berichten über Unregelmäßigkeiten in den Wirecard-Geschäften. Im sogenannten Payment-Sektor gibt es zahlreiche Konkurrenten: Von der Größe vergleichbar ist die im Euronext gelistete Amsterdamer Adyen NV. Das in San Francisco beheimatete Unternehmen Stripe hat ebenfalls einen stark europäischen Fokus. Globale Konkurrenten sind die Brachenriesen Paypal (San José/Kalifornien), Worldpay (London), Ingenico (Paris), Nexi (Mailand), Fiserv (Brookfield/Wisconsin), Global Payments (Atlanta) oder Ant Financial (Hangzhou/China). (mc)