© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Flucht vor dem „Schwarzen Gott“
Digitalisierung, Depression, Demenz: Bov Bjergs Roman „Serpentinen“ spiegelt Gegenwartsnöte
Dietmar Mehrens

Kennst du die Geschichte vom verlorenen Sohn?“ fragt der Vater seinen Sprößling, als beide auf einer Landstraße unterwegs sind. Der Junge kennt die Geschichte nicht. Denn: „Er ging zum Lebenskundeunterricht, nicht zu Religion.“ Vielleicht wird man die Generation von Bov Bjerg, dem Autor des Romans, in dem dieses Religionsgespräch geführt wird, einmal die haltlose nennen. Die Generation, die ihre eigene Nabelschnur durchtrennt hat. Nicht die, die man nach der Geburt durchtrennen muß, um ein individuelles Leben führen zu können, sondern jene unsichtbare geistige Verbindung zu dem, was dem Individuum später in diesem Leben Identität, Orientierung und Sinn verleiht, damit es sich nicht fühlen muß wie ein funktionsuntüchtiger Satellit mit gestörter Funkverbindung zur Erde, der als anonymer Weltraumschrott richtungslos durchs All treibt. 

Bjerg, Jahrgang 1965, bedient sich einer etwas bodenständigeren Metaphorik, um dieser Haltlosigkeit Ausdruck zu verleihen. Der Titel des Romans, „Serpentinen“, ist eine Metapher für das Unterwegssein zu sich selbst. Mit seinem siebenjährigen Filius hat sich der Ich-Erzähler, der im Vorläufer „Auerhaus“ (JF 50/19) noch Höppner hieß, hier aber namenlos bleibt, in der Schwäbischen Alb auf eine Vater-Sohn-Tour begeben. Der in Berlin als Akademiker erfolgreich im Beruf Stehende hat hier seine Heimat.

Im Nacken sitzt dem Protagonisten bei seinen Fahrten ins Blaue einer, den er den Schwarzen Gott nennt. Kein Gott der Lebenden, sondern ein Gott der Toten und solcher, die es werden wollen: „Serpentinen“ ist ein Buch über Selbstmord und den Weg dorthin. Selbstmörder pflastern seinen Weg: Höppners Schulfreund Frieder nahm Tabletten, der Urgroßvater ertränkte sich, der Vater erhängte sich, der Großvater hat sich erschossen. Und auch bei ihm, dem Erben dieses schweren Vermächtnisses, hat sich der Schwarze Gott dreist auf den frei gebliebenen Platz gesetzt, den der alte Gott räumen mußte. Denn „daß der Gott der Erwachsenen erfunden war und ihre Beterei gelogen“, diese Ahnung hat sich beim Erzähler, ganz Kind seiner Zeit, zunehmend verfestigt. Parallel hat die Depressionsneigung zugenommen. Eine Therapeutin hat er auch schon. 

Die Emanzipation vom katholischen Kindheitsglauben, den die Mutter noch kultivierte, und der Schwarze Gott sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer genau gelesen hat, dem ist die dunkle Gestalt schon im „Auerhaus“ begegnet, der Schüler-WG, die Höppner und sein Freund Frieder im gleichnamigen Roman gründeten. Vordergründig ist der Roman ein witziges Jugendbuch, das erzählt, wie Heranwachsende über die Stränge schlagen und am Ende trotzdem das Abitur schaffen. Aber es ist auch ein Buch über Trübsinn, innere Leere und Todessehnsucht. So gesehen setzt „Serpentinen“ den Vorläufer konsequent fort. Diesen Eindruck möchte offenbar auch die Verlagswerbung erwecken – immerhin hat sich „Auerhaus“ bestens verkauft – und räumte Frieder ein Plätzchen auf dem Buchrücken ein. Doch der Verstorbene ist in dem Roman kaum mehr als eine Randnotiz. Im Zentrum stehen die gemeinsamen Wanderungen von Vater und Sohn durch Dörfer und Wälder der heimatlichen Alb, Besuche in Museen und Kirchen und bei der Mutter, über die es heißt: „Ihr Gedächtnis war fast abgetragen, Schicht für Schicht, bis hinunter zum Plusquamperfekt.“ Vor allem aber geht es um die Erinnerungen, die das alles beim Erzähler auslöst. Schließlich gipfelt die spannungsarme Handlung reichlich unvermittelt darin, daß auch der Siebenjährige auf einen Baum klettert und sich ein Seil um den Hals wickelt ...

Sehnsucht nach einer Heimat, die zerstört wurde

Lieblose Eltern, Alkoholmißbrauch und Unfrieden am heimischen Herd: das erinnert an Angelika Klüssendorfs „Das Mädchen“ (2013), die an Reisemotive geknüpfte Selbstreflexivität eines therapiebedürftigen Helden an Terézia Moras Buchpreisgewinner „Das Ungeheuer“ (2013). Der war allerdings sprachlich sperriger; mit seinem Vorgänger „Auerhaus“ hat dieser Roman immerhin gemeinsam, daß er sich vermöge einer massiv reduzierten Syntax durchaus flüssig liest. Doch die Erinnerungsfragmente wollen sich nicht recht zu einem Ganzen fügen. Man spricht bei einem solchen Befund, den der Leser ausbaden muß, vielleicht gnädiger von expressionistischen Assoziationsketten, die dazu dienen, die in innerer Unruhe befindliche, zwischen Mails und Monitoren, SIMs, PINs und PUKs ins Schlingern geratene Existenz des Protagonisten zu versinnbildlichen. So wird aus der spannungsarmen Lektüre kurzerhand Kunst. 

Ein vielsagendes Zeitdokument ist das Buch allemal. Kapitel 24 endet mit der Geschichte vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium. Sehnsucht drücken diese Worte aus nach einer Heimat, die zerstört und noch nicht wieder aufgebaut wurde. Daß die Haltung spöttischer Religionsverachtung weder Lebenskraft noch Mut, noch Hoffnung verleiht, daß der Schwarze Gott der Depression das Vakuum füllt, zu dem jene führte: das alles sind Anzeichen dafür, daß der aufgeklärte Mensch mit seiner Transzendenzskepsis mehr verloren als gewonnen hat.

Für diese Verlorenheit findet „Serpentinen“ immer wieder Sätze und Symbole. Kapitel 40 und 41 bestehen aus jeweils nur einem Satz: „Warum hast du mich verlassen“ und „Mich dürstet.“ Besser als mit diesem Rekurs auf die Worte Jesu am Kreuz kann man die Sehnsucht nach dem Vatergott nicht ausdrücken.

Bov Bjerg: Serpentinen. Roman. Claassen Verlag, Berlin 2020, gebunden, 272 Seiten, 22 Euro