© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Biographische Komponenten des „weißen“ Schuldkults
Schwindelerregende Spurensuche
(wm)

Es genügt,  auf Richard von Weizsäcker oder Jan Philipp Reemtsma zu verweisen, um den soziologisch noch unerforschten, vermutlich hohen Anteil jener an der „Vergangenheitsbewältigung“ zu taxieren, deren Familiengeschichte im Dritten Reich sie motivierte, zwecks persönlicher Entlastung individuelle „Schuld“ zur „Kollektivschuld“ aufzupumpen. Der an einem College der Universität London lehrende US-amerikanischer Literaturhistoriker W. Daniel Wilson nährt in seiner jüngsten Wortmeldung den Verdacht, daß diese biographische Komponente bei moralinhaltigen Zelebrationen „weißer Schuld“ eine ebenso große Rolle spielt. Der Foucault-Adept Wilson war jahrzehntelang bemüht, die „dunkle, feudalabsolutistische Seite“ der Weimarer Klassik aufzudecken, um die Brücke von Goethe zu Hitler zu schlagen und so ein Zentrum deutscher Identität zu „dekonstruieren“ (JF 42/18). Nun, das Geschäftsfeld wechselnd, enthüllte ihm genealogische Spurensuche, daß er ein Nachkömmling von Sklavenhaltern sei (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juni). Zudem fand Wilson heraus, daß sein eigenes Domizil ebenso wie Häuser in der weiteren Nachbarschaft im noblen Londoner Stadtteil Twickenham im 19. Jahrhundert Bauherren errichteten, die dort ihre Profite aus dem Sklavenhandel investierten. Weitere ihn „schwindlig machende“ Recherchen ergaben, daß die Vermögen von zwanzig Prozent der britischen Elite sich diesem finsteren Gewerbe verdankten. Gut, daß Oberbürgermeister Sadiq Khan eine Kommission eingesetzt habe, um ein den Kulturkrieg weiter anheizendes Bewußtsein dafür zu schaffen, daß London wie die ganze Nation „einen Großteil ihres Reichtums der Sklaverei verdanken“.