© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Begreifen, was ist, und gegensteuern
Wer ist rechts? Veristen gehen von der Wirklichkeit samt Ent-Täuschung aus / Teil III der JF-Serie
Karlheinz Weißmann

Zu den Seltsamkeiten des bürgerlichen Feuilletons gehört die stete Sorge um das Befinden der Linken. Die war besonders groß nach der Niederlage der „Gesamtlinken“ (Jan Philipp Reemtsma) in Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Weshalb der Kulturteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) 1992 eine Rundfrage zum Thema „What’s left?“ brachte. Die Gegenfrage folgte mit Verzögerung und nicht aus eigenem Antrieb, sondern als Reaktion auf die Beunruhigung, die ein Essay des Schriftstellers Botho Strauß unter dem Titel „Anschwellender Bocksgesang“ ausgelöst hatte. Er schien den Eindruck zu bestätigen, daß eine neue intellektuelle Rechte entstehe und an Bedeutung gewinne. Was Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ, bewog, eine Reihe zu eröffnen, die das „What’s right?“ klären sollte.

Nun war es kein Problem gewesen, Linke und Nichtlinke laut darüber nachdenken zu lassen, wie es mit der Linken weitergehen sollte. Aber es war ein erhebliches Problem, Nichtrechte zu finden, die überhaupt zum Thema Stellung nehmen wollten, und Rechte, die das Feuilleton als reputierlich betrachtete. Bei einem Gespräch bat mich Schirrmacher deshalb um eine Liste mit denkbaren Namen. Von den genannten blieb zuletzt kaum jemand übrig.

Aber wenigstens in einem Fall hatte ich mit meiner Empfehlung Erfolg. Am 27. April 1994 veröffentlichte die FAZ in der Rubrik „What’s right?“ einen Text von Panajotis Kondylis unter dem Titel „Das Planetarische denken“. Er fiel so aus, wie man es bei diesem Denker erwarten durfte. Das heißt, Kondylis spottete nicht nur über alle, die ernsthaft meinten, der Weltfriede sei ausgebrochen, sondern auch über jeden, der sich an tote Überlieferungen klammerte oder immer noch mit der Kapitulation der Wehrmacht haderte. Angesichts der Herausforderungen, die auf das Ende des Kalten Krieges folgten, gehe es um einen klaren und kalten Blick: „Der ‘Takt des Urteils’, von dem der große Clausewitz sprach, ist durch kein Glaubensbekenntnis und durch keine stolze Militanz zu ersetzen.“

Rückblick auf eine stolze Tradition

Kondylis betrachtete sich nicht als „Rechter“. Was Armin Mohler, der diese Zuschreibung willig akzeptierte, keinen Augenblick hinderte, dessen Text per Kopie in Umlauf zu bringen und mit dem Hinweis zu ergänzen: „Das Manifest der allerneuesten Neuen Rechten“. Der sachliche Grund dafür lag in dem, was beide verband, einem Realismus, der die Tatsachen nicht scheut, auch die unangenehmen nicht. Solcher „Verismus“ kann auf eine stolze Tradition zurückblicken, die von Thukydides über Niccolò Machiavelli bis zu David Hume, Ernest Renan, Georges Sorel, Vilfredo Pareto, Max Weber, Oswald Spengler, Hermann Heller und Julien Freund reicht.

Zwischen diesen Denkern bestehen fallweise erhebliche Unterschiede, aber sie waren sich doch einig darin, daß das Ziel der politischen Analyse zuerst Ent-Täuschung sein müsse. Das erklärt auch, warum sie dem Faktor „Macht“ eine so ausschlaggebende Rolle zusprachen, nicht nur, was das Wesen des Menschen, sondern auch, was die Formen seines Zusammenlebens und das Schicksal seiner Werke betrifft. Daher rührt die Skepsis der Veristen gegenüber allen Verheißungen des Fortschritts, vor allem aber die Sicherheit, mit der sie die Dekadenz unter polierter Oberfläche erkennen: „Das Stigma der ‘humanitären’ Entartung ist dieses: Nachsicht oder Kult für alles, was die Menschheit erniedrigt und verdirbt (Faulheit, leichtes und künstliches Leben, egoistische Vergewaltigung der ursprünglichen Gesetze der Natur usf.) und eine entsprechende wütende Feindschaft gegenüber allen Übeln, die brechen und reinigen. Der verfaulte Baum eifert gegen die Stöße des Windes! Man läßt den Menschen sich vergiften, man beschleunigt sogar seine Vergiftung, seine Auflösung, aber man wettert gegen die Unordnung oder die ‘Ungerechtigkeit’ eines Nadelstichs. Als ob die schlimmste der Geißeln nicht diejenige wäre, welche den Geschmack des Honigs, der Ruhe und der Freude hat, den Menschen unwiderstehlich anzieht und gleichzeitig verschlingt, ihm das Leben läßt und ihm den Sinn des Lebens nimmt! Als ob das süße unwiderstehlich anziehende Lied der Sirenen nicht mehr unwiderrufliche Töne enthielte als die Drohung der Erinnyen.“

Die Sätze stammen von dem Philosophen Gustave Thibon, der dagegen die Forderung „Retour au réel“ – „Rückkehr zur Wirklichkeit“ – setzte. Wobei er mit Wirklichkeit nicht das gemeint hat, was der Positivismus oder der Materialismus als Tatsache anerkennen, sondern das, was sich dem einfachen Gemüt wie dem geistigen Menschen als Realität erschließen kann, wenn er begreift, was ist. Der Thibon nahestehende Marcel De Corte hat diesen Realismus als Einstellung bestimmt, die „an die objektive Existenz der Natur, der Außenwelt –, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein –, glaubt, die zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt von Grund auf scheidet“.

In bezug auf die Politik bedeutet das, daß man „vom Menschen ausgeht, wie er wirklich ist, und nicht, wie er sein sollte“. Eine Fähigkeit, die sich vor allem an der Treffsicherheit veristischer Prognosen bewährt. Stellte man also heute die Frage, wer mit seinen Erwartungen im Hinblick auf den Egalitarismus des Bildungswesens, den Ausbau der Sozialfürsorge, das Wuchern der Staatsquote, den Geburtenschwund, die Masseneinwanderung, den Einfluß des Islam, die Vergötzung der Dritten Welt, den kollektiven Selbsthaß der Deutschen, der Europäer, des Westens, der alten weißen Männer, den Relativismus, den Multikulturalismus, die Wirkung von Political Correctness, den Feminismus, den Abbau der Inneren Sicherheit, die Wahrscheinlichkeit militärischer Konflikte, der allgemeinen internationalen Verständigung und der Völkerfreundschaft recht behalten hat, wird man auf manchen Veristen, aber auf keinen Vertreter der Linken treffen.

Den Linken fehlt der Sinn für Grenzen

Die wesentliche Ursache dafür ist, daß die Linke im Hinblick auf die Welt und den Menschen nicht von dem ausgehen will, was ist. Weshalb ihre Stärke in dem Schwung liegt, mit dem sie immer wieder an deren Modellierung geht. Während ihre Schwäche daraus resultiert, daß sie unfähig bleibt, zu trennen zwischen dem, was möglich ist, und dem, was nicht möglich ist, dem, was tatsächlich Verbesserung bedeutet, und dem, was nur so scheint. Vor allem aber fehlt ihr der Sinn für die Grenzen, die die Kreatürlichkeit unserer Spezies zieht, für die pädagogische Wirkung gewisser Härten und Ungerechtigkeiten und für die Unwahrscheinlichkeit der moralischen Besserung.

Grundsätzlich: Trotz der dramatischen Veränderungen der vergangenen zweihundertfünfzig Jahre haben wir weder die allgemeine Freiheit noch die allgemeine Gleichheit. Und nicht nur das. Für jeden Schritt, der in Richtung auf deren Umsetzung führen sollte, war ein Preis zu zahlen. Für das Mehr an Freiheit: ein Mehr an Einsamkeit, Entfremdung, Heimatlosigkeit, privater Bedrohung, staatlicher Überwachung, Verlust der sozialen Kohärenz. Für das Mehr an Gleichheit: ein Mehr an Ressentiment, Verwahrlosung, Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen, Sklaverei im Verborgenen, Verlust der Maßstäbe.

Wenn dagegengehalten wird, daß auch die Hoffnung der Rechten auf ein Zurück, ein Goldenes Zeitalter, die Wiederherstellung der civitas christiana, ein Leben in Schwarz-Weiß, erledigt sei, ist das unbestreitbar. Allerdings gehört auf deren Seite das tragische Scheitern zu den Gegebenheiten, mit denen man rechnet. Ein Gelingen auf Dauer, das In-Form-Bleiben, hätte Spengler gesagt, ist glückhafte Ausnahme.

Das gilt auch für den Staat der Neuzeit, der Ordnung und Freiheit verbürgte. Seine Auflösung im Namen von Globalisierung und Grenzenlosigkeit war aus der Sicht der Veristen genauso ein Irrtum wie die Bereitschaft, ihn den Verbänden und allen möglichen Ambitionen der Gesellschaft auszuliefern. Der Verist ist unbedingt für den starken Staat, „den Staat oberhalb … der Interessenten“ (Alexander von Rüstow), den Staat, der seine Handlungsfreiheit bewahrt und – in weiser Selbstbeschränkung – den Bürger vor seiner – fiskalischen, pädagogischen, religiösen – Zudringlichkeit.

Daß sich die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte immer weiter von diesem Ideal entfernt hat, weckt das Mißtrauen und die Sorge der Veristen. Denn die „liberale Demokratie“ ist offenbar je länger je weniger in der Lage, ihre Gefährdung zu erkennen und abzuwehren. Ihren Bestand garantiert heute nur noch eine unheilvolle Mischung aus Utopismus, Konsum und social engineering. Die vorpolitischen Grundlagen, auf denen sie errichtet wurde, hat sie rücksichtslos vernutzt. Daß dem niemand Einhalt gebietet, hat mit der Macht der „Nonsensdenker“ (Roger Scruton) zu tun, aber auch mit dem „Massenwahn“ (Douglas Murray), der die vielen gierig hören läßt, daß es gut geht und noch besser gehen wird.

Der Verist weiß, wie schwer es ist, diese Lage zu verändern und die existentielle Bedrohung des Gemeinwesens abzuwenden. Denn die Institutionen, denen seine Neigung gehört, stehen unter feindlicher Kontrolle, und ihm fehlt das Zutrauen der Aufklärer in den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. So bleibt ihm bis auf weiteres nur der Bau von Gegeninstitutionen und das Treiben von Gegenaufklärung sowie die Erinnerung an die bitteren Lektionen, die die Geschichte von Fall zu Fall bereithält und vielleicht jenes Quentchen Hoffnung, von dem eine kluge Frau gesprochen hat: das setzt er auf die „Instinkte“, die zu wecken sind, wenn es darum geht, die „Götzen des Progressismus“ (Bérénice Levet) zu stürzen.

Die nächste Folge der Serie „Wer ist rechts?“ erscheint in der JF-Ausgabe 29/20 am 10. Juli.