© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Dialog über Grenzen hinweg
Kunstschätze: Die Alten Meister in Dresden haben wieder geöffnet
Paul Leonhard

Adam und Eva stehen splitternackt im Paradies und tragen Mund- und Nasenschutz. Sie hält in jeder Hand einen Apfel, aber es gilt ein Mindestabstand: Zwei Meter zeigt ein weißer Pfeil an. Keine Chance, die verbotene Frucht zu reichen. Wer die Distanz nicht einhält, wird erbarmungslos aus der Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau des Dresdner Zwingers verbannt.

Eva ist auf dem Gemälde viel zu schüchtern gemalt, als daß sie den Apfel werfen würde. „Mit Vorsicht zu genießen“, wirbt und warnt die Leitung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gleichzeitig auf einem Plakat, um dann quasi im Kleingedruckten das eigentlich Wichtige mitzuteilen: Alle Kunstschätze der Museen, selbst das von Einbrechern heimgesuchte Grüne Gewölbe, sind wieder für Besucher geöffnet. Die weltberühmten Werke Cranachs, van Dycks, Rembrandts und vor allem die „Sixtinische Madonna“ können wieder bewundert werden.

Für die Alten Meister und die Skulpturensammlung ist es die zweite Wiedereröffnung innerhalb kurzer Zeit. Denn erst hatte die grundlegende Sanierung des von Gottfried Semper (1803–1879) als Palazzo für eine königliche Sammlung 1855 errichteten Gebäudes sieben lange Jahre gedauert, und dann war nach einer Festwoche, deren Höhepunkte eine Gemäldenacht von 22 Uhr bis zwei Uhr morgens bei freiem Eintritt war, und in der die Dresdner in Scharen kamen, die Sammlung wie alle deutschen Museen wegen der Corona-Pandemie erneut geschlossen.

Aber seit Juni darf wieder genossen werden, mit Vorsicht und Abstand, zu den Gemälden und zu den anderen Besuchern. Geordnet ist die Galerie geographisch nach Malerschulen. Die italienischen Meister hängen auf roten Wänden, die spanischen und französischen auf dunklem Blau, die niederländischen und deutschen auf Grün. Mitunter hängen die Bilder sogar dicht an dicht, wird prachtvoll gewuchert, wenn die Sammlungsbestände so groß sind, wie im Fall von Rembrandt, van Dyck und Bellotto. Von dem Wittenberger Meister Cranach sind 40 von 62 vorhandenen Bildern in einem eigenen Saal zu sehen. In der Mitte des Raums wurde eine 1488 von Adriano Florentino geschaffene Bronzebüste plaziert. Sie stellt Friedrich den Weisen dar, einen der Kunstsammler aus dem einstigen sächsischen Herrscherhaus.

Andererseits sind Meisterwerke von Rembrandt und Rubens umringt von Arbeiten ihrer Kollegen und Schüler. „Und van Dyck antwortet auf Rubens“, sagt Museumsdirektor Stephan Koja. Tizians „Zinsgroschen“ hat frühe Italiener an der Seite. Auch in Seitenkabinetten werden Gemälde in bis zu drei Reihen übereinander gehängt – wie im Barock.

Skulpturen stehen im Austausch mit Gemälden

Neu an der Ausstellungskonzeption ist, daß sich zu den rund 700 Gemälden, von denen mehr als 200 in den vergangenen Jahren restauriert wurden, 420 Skulpturen gesellen. Die bedeutende Dresdner Antikensammlung hat nach zehn Jahren im Schaudepot des Albertinums ihr neues Zuhause in der Antikenhalle im Erdgeschoß des Ostflügels des Semperbaus gefunden. Plastiken und Skulpturen aus Renaissance und Barock sind im mit Tageslicht gefluteten Skulpturengang im ersten Obergeschoß zu sehen, während Kleinbronzen, Büsten und Marmorwerke im direkten Austausch zu ausgewählten Gemälden stehen.

„Wir haben versucht, den Wettstreit zwischen Malerei und Skulptur vorzuführen“, sagt Direktor Koja. Schließlich sei die Antike der Maßstab, an dem sich alle messen. Wie spannend dieser Dialog sein kann, zeigt ein kleiner Marmorkopf des Bildhauers Henrick de Keyser. Dieser entstand 1615, und Koja ist der festen Überzeugung, daß „dieses weinende Kind das Vorbild für den greinenden Knaben“ auf Rembrandts 1635 entstandenem Gemälde „Ganymed in den Fängen des Adlers“ war. Schließlich kannten sich die beiden, und im 17. Jahrhundert war es üblich, nach Skulpturen zu malen und nicht nach menschlichem Modell.

Aus Sicht von Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, wird hier „in gewisser Weise ein Geist wiederbelebt, dessen Ursprung in der Kunstkammer liegt: die dialogische Koexistenz von Kunstwerken und Artefakten über die Gattungsgrenzen hinweg“. Die anregenden Gegenüberstellungen im Dresdner Semperbau würden das Auge hin und her springen, ungekannte formale Analogien, Wechselbeziehungen und gegenseitige Beeinflussung zwischen Skulptur und Malerei entdecken lassen.

Insgesamt erwartet die Besucher rund um Raffaels „Sixtinische Madonna“, die am gewohnten Platz am Ende der Meistersäle dominiert, eine einzigartige Reise durch die europäische Kunst- und Kulturgeschichte. 

Die Gemäldegalerie Alte Meister Dresden, Theaterplatz 1, hat täglich außer montags von 11 bis 17 Uhr, freitags bis 20 Uhr, geöffnet. Der Eintritt kostet 14 Euro. 

Tel. 03 51 / 49 14 2000

 https://gemaeldegalerie.skd.museum/