© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Ein exklusiver Club der Siegermächte
Im Juni 1945 wird in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet / Privilegien für „Sicherheitsrat“
Stefan Scheil

Wir haben hier eine Einrichtung geschaffen, die Mäuse kontrollieren kann, aber die Tiger werden frei herumlaufen.“ Durch diesen Satz kommentierte mit Mexikos Botschafter ein Diplomat die Unterzeichnung der UN-Charta im Juni 1945, dessen Land im Zweifelsfall zu den Mäusen gehören würde. Er faßt den entscheidenden Wesenszug der Vereinten Nationen auch fünfundsiebzig Jahre später noch gut zusammen. Was offiziell als Start einer friedlichen Weltordnung präsentiert wurde, teilte die Welt dauerhaft in Sieger, Kontrollierte – und Besiegte.

Ihre Macht sicherten sich die Sieger durch ein doppeltes Vetorecht. Die Sowjetunion, die USA, Frankreich, China und Großbritannien schufen einen Weltsicherheitsrat, in dem sie selbst die einzigen ständigen Mitglieder waren und bis heute sind. Er hat das Privileg, als einzige Instanz Völkerrechtsverstöße feststellen zu können und sie selbst das Privileg, eigene Verurteilungen jederzeit verhindern zu können.

Mehr noch. Das ganze UN-Konstrukt von 1945 kann zwar durch einen Mehrheitsbeschluß aller Mitgliedsstaaten in der Generalversammlung theoretisch reformiert werden. Aber auch dort hat jeder einzelne der Großen Fünf ein Vetorecht, kann also zur Not gegen das Votum der gesamten übrigen Staatenwelt eine Reform blockieren. 

Nun ist es und war es immer offensichtlich, wie wenig diese Machtfülle dazu geeignet sein kann, Frieden zu stiften. Freilaufende Tiger sind keine Vegetarier, um im Bild zu bleiben. Und so wuchs denn die Mitgliederzahl der Vereinten Nationen zwar stark, als der Westen seine Kolonien aufgab, und noch einmal deutlich, als 1989 das Sowjet­imperium in seine Teile zerfiel. Aber Kriege wurden weiterhin reichlich geführt.

Bis heute friert die Charta der Vereinten Nationen einige Fronten von 1945 ein. Nicht einmal die Feindstaatbestimmungen gegenüber den früheren Dreimächtepaktstaaten konnten irgendwann aus den Regeln gestrichen werden, obwohl es entsprechende Beschlüsse und Ankündigungen vor Jahrzehnten schon gegeben hat. Deutschland und Japan dürfen sich auch weiterhin als Feindstaaten der Uno ansehen, soweit sie sich denn als identisch mit dem Deutschen Reich und dem japanischen Kaiserreich vor 1945 betrachten. Das ist zumindest für „Deutschland“ bekanntlich etwas fraglich, aber vom Deutschen Reich ist in keiner einzigen Siegererklärung von 1945 ausdrücklich die Rede. In der UN-Charta auch nicht.

Eine besondere politische Wirkung konnte die Feindstaatenfloskel nie entfalten. Das wird am Artikel 77 der Charta deutlich, der in einem Halbsatz trocken feststellt, unter die Treuhandverwaltung der Uno seien unter anderem zu stellen: „Hoheitsgebiete, die infolge des Zweiten Weltkriegs von Feindstaaten abgetrennt werden“. Der Zweck dieser Unternehmung sollte es ausdrücklich sein, „den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und erzieherischen Fortschritt der Einwohner der Treuhandgebiete und deren fortschreitende Entwicklung zur Selbstregierung oder Unabhängigkeit so zu fördern, wie es den besonderen Verhältnissen eines jeden dieser Hoheitsgebiete und seiner Bevölkerung sowie deren frei geäußerten Wünschen entspricht“.

Das hätte eigentlich ganz Ostdeutschland und die Sudetengebiete betroffen, die schließlich vom deutschen Feindstaat „abgetrennt“ werden sollten. Und sicher hätten die Deutschen jenseits von Oder und Neisse eine Chance zur „Selbstregierung“ und Respekt vor „ihren frei geäußerten Wünschen“ ausdrücklich begrüßt. Allein, daraus wurde nichts. 

Vier Wochen später prüften die Sieger auf der Konferenz von Potsdam die Anwendung des vorgesehenen UN-Treuhandsystems auf die Abschlußregelungen für den Zweiten Weltkrieg. Es blieb wenig davon übrig, lediglich frühere italienische Kolonialgebiete sollten treuhänderisch verwaltet werden. Die massenhafte Vertreibung der Ostdeutschen beschloß man freihändig, und ohne sich um die schöne neue Welt des Rechts zu kümmern, die in der Charta proklamiert worden war.

G7 oder G20 als alternative Machtforen etabliert

An diesem Punkt wird nebenbei erkennbar, wie müßig die Debatte um die fortdauernde Geltung der Feindstaatenklausel ist. Unter den Bedingungen des UN-Rechts könnte theoretisch jeder der großen deutschen Kriegsgegner jederzeit die Kampfhandlungen wieder aufnehmen, ohne deshalb verurteilt werden zu können. Wie gegenüber jedem anderen Staat ist dies eine reine Frage der politischen Opportunität, das geltende Völkerrecht gibt es jederzeit her.

Das gehört denn auch mit zu den Gründen, warum sich staatliche Weltpolitik in den letzten Jahrzehnten zunehmend weniger in den unreformierbar starren Gremien der Vereinten Nationen abspielt. Soweit auf staatlicher Ebene verhandelt wird, wurden inzwischen andere Formen gefunden. Beispielsweise die G7 oder G20-Gipfel, bei denen zwanglos die längst geänderten Machtverhältnisse abgebildet werden können und die früheren Besiegten genauso wie die Kolonien von 1945 mit am Tisch sitzen. Die Tiger laufen nicht mehr ganz so frei wie 1945.