© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Die Menschenschmuggler setzen auf Tunesien
Brennpunkt Mittelmeer: Europol warnt vor steigender illegaler Migration / Sea Watch und Co. kritisieren Grenzschutzagentur Frontex
Marc Zoellner

Die Beerdigungen waren anonym und steril: Eingehüllt in dicke schwarze Corona-Schutzkleidung, trugen städtische Beamte des Friedhofs von Sfax gleich Dutzende Tote auf Bahren über das Begräbnisfeld. Lokale Fischer hatten die Leichen am Vortag erst am Strand der zentraltunesischen Hafenstadt gefunden. Doch es sollten nicht die letzten sein, die das Mittelmeer Mitte Juni dieses Jahres an seine Küsten spülte. Wie viele Menschen sich insgesamt auf dem kleinen Kutter befanden, der vier Tage zuvor von den zwanzig Kilometer entfernten Kerkenna-Inseln mit Italien als Ziel aufgebrochen und kurz darauf im seichten Wasser vor Sfax gekentert war, ließ sich für die Behörden nicht mehr nachverfolgen. Die Schmuggler, denen das Boot gehörte, waren entkommen. Zurück blieben bislang über 61 Ertrunkene, darunter 28 Frauen und vier Kinder, in der schlimmsten Schiffskatastrophe Tunesiens seit Jahresbeginn.

Ungewöhnlich lange war es ruhig geblieben in den Gewässern des südlichen Europa: Selbst das war der Corona-Epidemie verschuldet. „Zwar hat das Eintreffen von Migranten an der italienischen Küste in den Monaten der Ausgangssperre nie wirklich ganz aufgehört“, berichtet die italienische Reporterin Sabina Castelfranco dem Nachrichtensender Voice of America. „Aber die Häfen waren geschlossen, und aufgrund des Notfalls patrouillierten auch keine Schiffe von Nichtregierungsorganisationen mehr im Mittelmeer.“ 

Auch das seit Oktober 2013 von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unterstützte „Missing Migrants“-Projekt, welches sich auf die Dokumentation der Fallzahlen zur Flucht über das Mittelmeer spezialisiert hat, bestätigt einen historischen Tiefstand; zumindest seit Beginn der Flüchtlingskrise von 2015. Dabei hatten noch im stürmischen Februar – im Vergleich mit den beiden Vorjahren – mit 5.700 Menschen gleich doppelt so viele die waghalsige Überfahrt über das Binnenmeer versucht. Doch im April, zum Höhepunkt der Corona-Krise, zählte das Projekt lediglich noch 1.500 Illegale – ein Drittel der Fallzahlen vom Vorjahr, ein Zwanzigstel verglichen mit dem April 2015.

Auf Tourismus und Außenhandel existentiell angewiesen, traf der weltweite Shutdown im Zuge der Corona-Krise die nordafrikanischen Küstenanrainer besonders hart. Reisegäste blieben aus, das Gastgewerbe kam zum Erliegen, die ohnehin noch vom Arabischen Frühling geschwächten sozialstaatlichen Einrichtungen fanden sich von Anfragen überlastet. Plötzliche Arbeitsplatzverluste trafen neben jungen Einheimischen speziell auch die Masse an unregistrierten Einwanderern, die oftmals nur schwarz als Hilfsarbeiter in der Fischerei und im Dienstleistungssektor tätig waren. 

Covid-19 verschlechtert die Situation der Migranten 

„Während der Covid-19-Beschränkung haben über 53 Prozent aller Migranten und Flüchtlinge in Tunesien ihre Stelle verloren“, mahnt der Mittelmeer-Abgesandte des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR). „Es ist unklar, wie viele davon ihre Arbeit zurückbekommen können oder sich im verschärften Wettbewerb mit Einheimischen wiederfinden. Aus Verzweiflung könnten diese Leute ihr Leben riskieren, weil Menschenschmuggler sie belügen werden.“

„Die anhaltende ökonomische Instabilität in einigen afrikanischen Staaten sowie der fortwährende Chancenmangel dürften eine weitere Welle irregulärer Migration in Richtung EU auslösen“, warnte Mitte Mai bereits die europäische Polizeibehörde Europol. „Da es ihnen kaum möglich war, sich während der Ausgangssperren frei zu bewegen, werden die Lockerungen der Reisebeschränkung zu einer steigenden Anzahl von Migranten führen.“ Galt Libyen in den Vorjahren noch als Mekka der Menschenschmuggler, suchen diese, ebenso wie das Gros der aus Westafrika stammenden Migranten, aufgrund des zunehmend heftiger werdenden Bürgerkriegs um die libysche Hauptstadt Tripolis nach Ausweichrouten über das innenpolitisch stabile Tunesien. Der Krieg in Libyen sowie die Wirtschaftskrise in Tunesien stärken somit gleich zweifach die Netzwerke der Menschenschlepper an der tunesischen Küste, die im Idealfall für eine Überfahrt nach Italien kaum acht bis zehn Stunden benötigen.

Überdies kontrolliert die europäische Grenzschutzagentur Frontex die libyschen Küstengewässer seit Ende vergangenen Jahres verschärft nicht nur mit eigenen Patrouillenbooten, sondern ebenso mit Flugzeugen und unbemannten Drohnen, die bei Entdeckung verdächtiger Schiffe die libysche Küstenwache kontaktieren sollen.

 „Zehntausende Migranten“, beklagt die Menschenrechtsgruppe Sea Watch in einem gemeinsam mit drei anderen NGOs Mitte Juni veröffentlichten Dokument, seien auf diesem Weg bereits nach Libyen zurückverfrachtet anstatt zu sicheren Häfen in Südeuropa gelotst worden. Die Anschuldigungen der NGOs, Frontex liefere die rückgeführten Flüchtlinge menschenunwürdigen Zuständen bis hin zur Folter aus, bestreitet die Grenzschutzagentur und verweist hingegen auf den Umstand, „in den letzten Jahren über 330.000 Leben gerettet“ zu haben. Eine Finanzierung der libyschen Küstenwache durch das „Integrated Border Management“-Programm der EU fand allerdings tatsächlich statt und führte, gefördert mit bislang 90 Millionen Euro aus europäischen Steuertöpfen, zur hochwertigen Modernisierung der libyschen Küstenpolizei. 

Ähnliche Hilfsprogramme kann sich Frontex künftig auch im angrenzenden Tunesien vorstellen, um illegalen Menschenschmuggel bereits im Ansatz zu unterbinden. Prinzipiell sollten „Asylanträge schon an den Außengrenzen überprüft werden“, forderte unlängst Frontex-Direktor Fabrice Leggeri. „Die Asylbewerber sollten möglichst schnell Bescheid bekommen, ob sie den Flüchtlingsstatus erhalten oder nicht. Bei einer negativen Asyl-Entscheidung müssen die Migranten sofort abgeschoben werden.“