© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Der Fall Wirecard ist nicht der einzige Aktienbetrug
Ungeliebte Dax-Detektive
Thomas Kirchner

Leerverkäufer leihen sich gegen Gebühr überbewertete Aktien, die sie dann in der Erwartung verkaufen, sie später billiger wieder aufkaufen zu können. Diese „Shortseller“ geben die Aktien dann dem Verleiher zum vereinbarten Zeitpunkt zurück – ist der Kurs eingebrochen, gibt’s einen Gewinn, ansonsten wird’s teuer.

Während der Finanz- und Griechenland-Krise verbot die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Leerverkäufe – Banken gingen trotzdem pleite. Bei Wirecard ließ die BaFin zusätzlich gegen Hedgefonds und Financial Times-Reporter ermitteln, die nicht an die Mär vom Dax-Star glaubten. Doch die Leerverkäufer lagen richtig: Laut Bloomberg strichen sie drei Milliarden Euro ein – und die EU ermittelt nun gegen die BaFin.

Leerverkäufer leisten einen wichtigen Beitrag zum Funktionieren der Märkte: Ihr Verkaufsdruck bremste den Kursanstieg der Wirecard-Aktie. Ansonsten hätten euphorische Anleger noch höhere Verluste erlitten. Es gehört viel detektivische Recherche dazu, aus Unstimmigkeiten in Bilanzen auf wahrscheinlichen Betrug zu schließen und dann einen Leerverkauf zu initiieren. Während deutsche Medien vom „digitalen Lichtblick im Dax“ schwärmten, recherchierte die Londoner Financial Times intensiv. Im Fall Wirecard besuchten skeptische Anleger und Journalisten die Büros eines angeblichen Geschäftspartners in Fernost und mußten feststellen, daß dort nur ein Busunternehmen war. Bei chinesischen Aktienbetrügereien wühlten Leerverkäufer sich durch Unterlagen regionaler Behörden – wer kein Chinesisch kann, hat da aber keine Chance mitzuhalten. In einem anderen Fall zählten Leerverkäufer Lkws, die das Fabrikgelände verließen, um geschönten Verkaufszahlen auf die Spur zu kommen. Beim fragwürdigen Biodieselhersteller China Integrated Energy filmten Leerverkäufer die Fertigungsanlage vier Monate lang im Zeitraffer – die Anlage wurde ein einziges Mal angeschaltet, nämlich als Anleger zur Visite kamen. Legendär ist der Leerverkäufer Jim Chanos, der 2001 den Vorstandsvorsitzenden Jeffrey Skilling des US-Energieriesen Enron nach Ungereimtheiten in Fußnoten der Bilanz fragte. Skilling wurde ausfällig – genau jene Posten stellten sich später als Mittelpunkt des Enron-Bilanzbetrugs heraus, der 63,4 Milliarden Dollar Börsenwert vernichtete.

Wenn wie bei Wirecard sich eine lange Liste von Leerverkäufern sammelt, ist das nicht Zeichen einer gewaltigen Verschwörung von britischen Spekulanten, sondern ein Indiz, daß Ungereimtheiten in den Bilanzen vielen aufgefallen sind, die sich auf die Suche nach solchen Auffälligkeiten spezialisiert haben. Die BaFin sollte dann hellhörig werden – nicht wegen einer spekulativen Attacke gegen eine Aktie, sondern weil häufig wirklich etwas faul in der Firma ist.

Financial Times-Reporter Dan McCrum: twitter.com/fd