© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Ohne Lohnsklaverei geht nichts
Deutschland: Arbeiter aus Polen, Rumänien oder Bulgarien sind wichtige Stützen des Arbeitsmarktes
Christian Schreiber / C. T. Weick

Montags um sieben Uhr ertönt der erste Hammerschlag. Dutzende Arbeiter, der weitaus größte Teil davon Rumänen und Polen, werkeln auf einer Großbaustelle im Westen Berlins. Zwölf Stunden später verlassen sie das Areal. Dies geht bis Freitag weiter so. Nur am Samstag ist bereits am Nachmittag Feierabend. 

Der Einsatz südosteuropäischer Arbeiter ist in der Baubranche kein Geheimnis – nun aber dank Corona in aller Munde. So in Heidelberg. Nachdem bei 13 Arbeitern eines Bautrupps, die in einer Sammelunterkunft leben, das Coronavirus festgestellt wurde, kritisiert der für Nordbaden zuständige Sekretär der Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Christoph Bahn, die weitverbreitete Arbeit osteuropäischer Subunternehmen in der Branche. Deren Mitarbeiter erhielten den Mindestlohn für Hilfsarbeiter – und „nicht den deutlich höheren Facharbeiterlohn“, so Bahn gegenüber der Rhein-Neckar Zeitung. 

Knapp 300.000 Saisonarbeiter pro Jahr 

Wido Geis-Thöne, Senior Economist für Familienpolitik und Migrationsfragen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), wird genauer. Eine aktuelle Auswertung des IW zeige, daß im Jahr 2017 rund eine Million der 3,56 Millionen seit dem Jahr 2007 ins Land gekommenen Personen (zwischen 15 und 64 Jahren) der erwerbsorientierten Zuwanderung zuzuordnen seien, was einem Anteil von 29,8 Prozent entspreche. 

Auf die Zuwanderung aus familiären Gründen entfielen 974.000 Personen oder 27,4 Prozent und auf die bildungsorientierte Zuwanderung 361.000 oder 10,1 Prozent. Differenziere man, so Geis-Thöne weiter, nach Herkunftsländern, zeige sich, daß der weit überwiegende Teil der erwerbsorientierten Zuwanderer aus dem freizügigkeitsberechtigten Raum komme. So liege der Anteil der EU und der übrigen westeuropäischen Länder zusammen bei 72,8 Prozent, wobei 51,1 Prozent allein auf die Länder Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Kroatien entfielen. „Sollte die Zuwanderung aus diesen Ländern zurückgehen, kann es schnell zu Lücken am deutschen Arbeitsmarkt kommen“, so das Resümee des IW-Mitarbeiters.

Neu ist die Debatte um Saison- oder Leiharbeiter allerdings nicht. Schon vor zehn Jahren schrieb die IG Bau einen Brandbrief an die Branche und stellte klar, „daß Lohnsklaverei mit der Gewerkschaft nicht zu machen“ sei. 

Doch geändert hat sich bislang wenig. Egal ob in der Fleischindustrie, beim Spargelstechen oder auf dem Bau: Die Arbeitsbedingungen und die Lebensverhältnisse der oftmals aus Osteuropa stammenden Arbeiter sind katastrophal. „Auch wenn Sklaverei und Menschenhandel inzwischen international verboten sind  – nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation gibt es Zigmillionen Menschen, die in modernen Formen der Sklaverei ihr Leben fristen. Viele davon in Deutschland. Man sieht sie nur nicht“, kommentiert der Deutschlandfunk. 

Im Behördendeutsch werden sie „Mobile Beschäftigte“ genannt. Das Statistische Bundesamt sammelt die Zahlen über den Einsatz von Arbeitskräften in der Landwirtschaft immer über einen Zeitraum von vier Jahren; der Zensus für den Zeitraum von 2017 bis 2020 wird daher erst im kommenden Jahr veröffentlicht. Normalerweise greift alleine die deutsche Landwirtschaft auf knapp 300.000 Saisonarbeiter pro Jahr zurück.

 Als die Bundesregierung den Lockdown im März verhängte, kam es aus Reihen der Landwirtschaft zu massiven Protesten. Von einem Ausfall der Spargelernte war die Rede. Vier Wochen später, während noch ganze Industriezweige brachlagen, durften 40.000 Leiharbeiter aus Osteuropa wieder einreisen. Die zuständige IG Bauen-Agrar-Umwelt hält ihre Situation für katastrophal. „Mit den Ausnahmen für Erntehelfer von Reisebeschränkungen wurde die Landwirtschaft gestützt. Der Schutz der Saisonkräfte vor Covid-19-Infektionen ist nicht sichergestellt. Gleichzeitig führen die Regelungen zu einer bisher nicht gekannten Abhängigkeit der Beschäftigten vom Landwirt. So sind die Erntehelfer wegen der Quarantäne nicht ohne weiteres in der Lage, den Arbeitgeber zu wechseln, wenn dieser gegen seine Pflichten verstößt. Auch eine vorzeitige Heimreise ist den Saisonkräften nicht möglich. Ihnen fehlen in der Regel die Mittel für die notwendigen Flüge. In der Praxis sind sie daher dem Goodwill des Arbeitgebers ausgeliefert“, sagte der stellvertretende IG Bauen-Bundesvorsitzende Harald Schaum. Sein Fazit: Die gesamte Regelung verstoße gegen geltendes EU-Recht. Gezahlt werde auch hier meist nur der Mindestlohn von etwas mehr als 9 Euro. Für die Unterbringung gibt es gesetzliche Vorgaben, allerdings sagt die IG Bauen, daß es schwer sei, einzelne Verstöße zu kontrollieren. Auch die Gewerkschaft betont, daß das Modell mit den Saisonarbeitern aus Südosteuropa nicht per se schlecht sei. In vielen östlichen EU-Ländern ist die Arbeitslosigkeit hoch, zeitgleich fehle es in Deutschland an Hilfskräften in Landwirtschaft, Bau, Produktion und auch der Pflege. Der Übergang zwischen Lohnerwerb und Ausbeutung sei aber fließend. 

Auch der rumänische EU-Abgeordnete Dragos Pîslaru forderte kürzlich Nachbesserungen, was den Arbeitsschutz der Saisonarbeiter angehe. „Durch die Corona-Krise sind die Probleme besonders sichtbar geworden. Einerseits geht es um Arbeitsverträge, die den Saisonarbeitern nicht vor ihrer Abreise aus der Heimat ausgehändigt werden, sowie um eine Reihe von Verstößen, zum Beispiel, wenn Transportkosten vom Lohn abgezogen werden oder der Arbeitnehmer nicht darüber informiert wird, welche Rechte er in Sachen Sozialversicherung hat.“ Gegenüber der Deutschen Welle mahnte er auch die rumänische Regierung, für Klarheit zu sorgen, welche Rechte ihre Bürger hätten: „Wenn ein rumänischer Arbeitnehmer im Ausland Probleme mit seinem Arbeitgeber hat, muß es klar sein, wo er anruft, wer ihm hilft und in welcher Funktion das geschieht.“

Bukarest betreibt eine „Vogel-Strauß-Politik“ 

Derzeit arbeiten rund vier Millionen seiner Landsleute im Ausland, und sie wüßten nicht, was beispielsweise im Krankheitsfall oder bei arbeitsrechtlichen Problemen zu tun sei, klagt er. Die rumänische Regierung betreibe eine Vogel-Strauß-Politik: „Sie steckt den Kopf in den Sand und wartet, daß die Probleme vorbeigehen.“

Besonders im Blickpunkt ist derzeit die Fleischindustrie. Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 59,7 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde geschlachtet. Einschließlich des Geflügels produzierten die Unternehmen damit knapp acht Millionen Tonnen Fleisch. Marktführer ist dabei die Unternehmensgruppe Tönnies in Westfalen, die derzeit aufgrund der hohen Zahl an Corona-Erkrankten unter medialem Feuer steht. Aber es gab bereits zuvor positive Tests bei Mitbewerbern. Die Virologin Isabella Eckerle hat dafür mehrere Erklärungsansätze. Zum einen seien die Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen offenbar nicht mit den aktuell notwendigen Hygienemaßnahmen vereinbar. Dazu zähle der lange Aufenthalt vieler Personen in geschlossenen Räumen ohne Möglichkeit, ausreichend Abstand zu wahren. Im Gespräch mit der Deutschen Welle äußerte sie zudem die Vermutung, daß die harte körperliche Arbeit das Immunsystem schwächen könnte. 

Die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben mit Subunternehmern und Sammelunterkünften mit vielen osteuropäischen Beschäftigten stehen schon lange in der Kritik. Das Bundeskabinett hat im Mai Eckpunkte für verschärfte Arbeitsschutzvorschriften für die Fleischindustrie beschlossen. Geplant sind unter anderem ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in Teilen der Branche ab dem kommenden Jahr sowie höhere Bußgelder bei Verstößen gegen Arbeitszeitvorschriften. Die Geflügelwirtschaft in Deutschland hält ein mögliches Verbot von Werkverträgen für verfassungswidrig. „Wir würden dann diskriminiert, weil es diese Verträge ja auch zum Beispiel in der Logistik gibt, bei Amazon zuhauf im Moment, in der Baubranche, in vielen anderen Branchen“, sagte der Präsident des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft , Friedrich-Otto Ripke, im RBB. Fleisch-Multi Tönnies versuchte die Schuld auf die Subunternehmen abzuwälzen und empfahl eine Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro. Zudem sollten die Auftraggeber der Subunternehmer für eine menschenwürdige und wirtschaftlich faire Unterbringung aller Beschäftigten haften. Die Behandlung der Arbeitnehmer könne unabhängig überwacht werden.

In der Fleischwirtschaft in Deutschland sind rund 200.000 Menschen beschäftigt. Unter ihnen sind viele Arbeiter aus Südosteuropa, die oft nur Werkverträge haben und in engen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind. Dies gilt eigentlich für alle Bereiche der Zeitarbeit mit Werkverträgen. Die Arbeiter sind oft in miserablen Unterkünften irgendwo auf dem Land zusammengepfercht. Sie sind isoliert, haben kein Auto, in die Stadt fährt kein Bus. Oft bewegen sie sich fast ausschließlich zwischen Schlaf- und Arbeitsstätte. 

Die Gewerkschaft Verdi kritisierte unzureichende Hygienepläne, die Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) verlangte ein umgehendes Verbot von Werkverträgen. Auch der Sozialverband VdK machte sich für ein Ende von Leiharbeit und Werkverträgen stark. Sie ermöglichten es den Fleischkonzernen, Mitarbeiter zu rumänischen Mindestlöhnen und Sozialstandards zu beschäftigen. Hier liege einer der Hauptgründe für die Ausbeutung. 

Lukrative Geschäfte mit der Unterbringung

„Der Staat hat viel zu lange weggeschaut. Die Leute werden weder fair bezahlt noch erhalten sie eine faire soziale Absicherung. Wir dulden seit Jahren Lohn- und Sozialdumping mitten unter uns. Das muß sofort ein Ende haben. Wir haben eine soziale Verantwortung für alle Menschen hier im Land“, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. 

Doch ein zentrales Problem wird auch mit einem Verbot von Werkverträgen nicht gelöst. Rund um die Leiharbeiter ist ein lukratives Geschäft mit dem Bau von Sammelunterkünften entstanden. Teilweise bauten Kommunen selbst, um Arbeitsplätze vor Ort zu sichern, teilweise waren private Investoren am Werk. Oftmals werden leerstehende Flüchtlingsunterkünfte zur Unterbringung von Saisonarbeitern genutzt. Wer sich mit einem Dutzend anderer Toiletten und Küche teilt, ist in Corona-Zeiten anfälliger für Infektionen. Das eine leichte Anhebung des Lohns um drei Euro pro Stunde dazu führen wird, daß sich Leiharbeiter eine Wohnung mieten, darf dann doch bezweifelt werden. Denn ein Großteil des Lohns fließt in aller Regel an die Familien in der Heimat.