© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Aus dem Auge, aus dem Sinn
Kolonialgeschichte: Private Initiativen wollen deutsche Straßen von belasteten Namen säubern
Paul Leonhard

Fast drei Jahrhunderte lang galt Edward Colston (1636–1721) den Einwohnern im englischen Bristol als ein ehrenwerter Mann. Der reiche Händler hatte zu Lebzeiten großzügig an Schulen und Krankenhäuser gespendet. Dafür würdigten die Bürger ihn mit einem Denkmal. Dieses wurde jetzt in den Fluss geworfen. Denn Colston hatte sein Geld als Sklavenhändler verdient.

Ein Denkmalsturz, der zu einem weltweiten Flächenbrand führt: In Boston wird Christoph Columbus geköpft, in den Südstaaten der USA werden die Skulpturen von Generalen umgestürzt, in London Winston Churchill als Kolonialist und Rassist verunglimpft. Der US-Bundesstaat Mississippi entfernt das historische Andreaskreuz mit 13 Sternen als angeblich rassistisches Symbol aus der Flagge. Präsidenten stehen zur Disposition, Könige, Entdecker, Forscher, Reformer.

Daß es in Deutschland noch eine nennenswerte Zahl umstrittener Denkmäler gibt, erscheint nach ihrer Schredderung durch Revolutionen, verlorene Weltkriege und zwei sozialistische Diktaturen fast unwahrscheinlich. Aber daß das nur eine Frage des Maßstabes ist, zeigt ein Blick auf eine Deutschlandkarte auf der Internetseite www.tearthisdown.com. Verantwortet wird sie von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und dem Künstlerkollektiv Peng! 

Auf der Seite wird zu einer Rundfahrt zu jenen Orten eingeladen, die Namen mit kolonialem Bezug aufweisen. Daß diese auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik besonders häufig anzutreffen sind, verwundert wenig, aber auch auf dem Terrain des einstigen Arbeiter- und Bauernstaates hat ausreichend rassistische Substanz überdauert, wobei nicht nur Karl Marx gemeint ist, der in einem Brief an Friedrich Engels über Ferdinand Lassalle unter anderem schrieb: „Der jüdische Nigger Lassalle, (…) dabei das wüste Fressen und die geile Brunst dieses Idealisten. Es ist mir jetzt völlig klar, daß er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt.“

Nein, gemeint sind auch Mohrenstraßen und Mohrenapotheken. In Dresden ist mit Carl Gustav Carus (1789–1869) einer der vielseitigsten Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts ins Blickfeld der antirassistischen Geschichtsklitterer geraten. Für die Aktivisten der Initiative „Dresden Postkolonial“ zielte Carus „anthropologischer Rassismus auf die Festigung sowie pseudo-wissenschaftliche Rechtfertigung der weißen Vorherrschaft“. Die noch unausgesprochene Forderung: Das Universitätsklinikum sollte sich schnellstens einen neuen Namen suchen.

Mit diesen Scheuklappen vor Augen ist auch die Adresse des Dresdner Rathauses eine Provokation weißer Rassisten: Dr.-Külz-Ring. Schließlich war Wilhelm Külz (1875–1948), die parteinahe Stiftung der sächsischen Liberalen trägt seinen Namen, nicht nur ein liberaler Politiker, sondern 1907 als Reichskommissar für Selbstverwaltung für ein Jahr in Deutsch-Südwestafrika tätig. Külz habe sich an der „gewaltvollen Etablierung kolonialer Strukturen“ beteiligt und „in Deutschland für koloniale Expansionspolitiken“ geworben.

Amalie Dietrich (1821–1891), nach der ein Platz in Dresden, eine Straße in Rendsburg sowie eine Kindertagesstätte in ihrem Geburtsort Siebenlehn benannt sind, könnte als erfolgreiche Naturforscherin Vorbild sein, wenn sie nicht ausgerechnet auf dem Fünften Kontinent tätig gewesen wäre. So trifft sie als „Nutznießerin des Kolonialismus in Australien“ der Bannstrahl. Ihr „Verbrechen“: Sie nahm „an der gewaltvollen Aneignung durch britische Kolonisatoren teil“.

Ziel der deutschlandweit vernetzten „Antirassisten“ ist es nicht, daß Deutschlands Kolonialgeschichte aus dem Stadtbild verschwindet, sondern sie soll in ihrer Grausamkeit sichtbar gemacht werden, ihrer Opfer gedacht und der antikoloniale Widerstand und fortwährende Kampf gegen Rassismus geehrt werden: „Wo ein Denkmal fällt, soll ein Mahnmal entstehen oder die Sockel werden befreit, um Platz für Gestaltung von Künstler*innen aus den ehemaligen Kolonien und der hiesigen Schwarzen Community zu schaffen.“

Rückendeckung erhalten die heißherzigen, aber geschichtlich unbeschlagenen Aktivisten von Historikern wie Jürgen Zimmerer, Leiter der Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe an der Universität Hamburg. Er schlug im ARD-„Morgenmagazin“ vor, die Statuen hinzulegen oder auf den Kopf zu stellen, „um unsere Sehgewohnheiten herauszufordern“ und eine „Auseinandersetzung mit der Geschichte“ zu erzwingen. Und für Michael Zeuske, Professor an der Universität Bonn, sollte sich die Aufmerksamkeit auch auf den Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) richten: „Der hat in seinen Schriften den europäischen Rassismus mitbegründet.“ Was aber soll dann aus den Hunderten Denkmälern für den Judenhasser Martin Luther werden?

Im Deutschlandfunk sprach Zeuske mit Blick auf die Proteste der „Black Lives Matter“-Bewegung von einer „kulturellen Revolution“, die sich hoffentlich nicht so schnell verlaufe. Noch einen Schritt weiter geht Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Unter der Überschrift „Hol den Vorschlaghammer“ schlägt sie auf spiegel.de vor, „eine der unzähligen Straßen, die nach längst vergessenen Männern benannt sind (Dickhardt, Perels, Goßler, Bucher, Pimms), nach George Floyd zu benennen“. So könnte nach der Vorstellung Richters ein Widerstandskämpfer gegen Hitler, Friedrich Justus Perels, gegen einen US-Kriminellen ausgetauscht werden, der wegen zahlreicher Delikte verurteilt wurde.

Die Aufforderung zum Denkmalsturz zeigt vor allem das geringe geschichtliche Wissen der jungen Generation und das ebenso erschreckende Desinteresse der Älteren an nötiger Aufklärung. Maßstäbe sind verrutscht, historisches Wissen ist eine Last im Alltag der schnellen Verurteilung. Einen Bildungskonsens als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft scheint es nicht mehr zu geben, statt dessen akzeptiert eine gleichgültige schweigende Mehrheit, daß Vandalismus eine Form der Überprüfung sein kann. Und die Politik klatscht Beifall oder duckt sich weg.

Eine Ausnahme bildet AfD-Bundestagsfraktionschef Alexander Gauland, der Mitte Juni in einer Stellungnahme warnte: „Gesellschaften, die nicht mehr willens oder in der Lage sind, sich mit überkommenen Zeugnissen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sondern statt dessen jede Erinnerung an die in ihren Augen unliebsamen Aspekte der Geschichte radikal entsorgen wollen, begeben sich auf einen gefährlichen Weg und berauben sich der Möglichkeit, aus der Geschichte Lehren zu ziehen.“