© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Lizenz für Geschäfte mit dem Tod
Suizidhilfe: Das Bundesverfassungsgericht bricht mit Fundamenten des europäischen Rechtsdenkens
Wolfgang Müller

Im Unterschied zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai 2020, das Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihen-Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank stattgab, um damit ein kleines Erdbeben in Politik und Wirtschaft auszulösen, blieben überwiegend zustimmende Reaktionen zur Karlsruher Entscheidung vom 26. Februar 2020 aufs Feuilleton begrenzt.

Dabei zeugt auch dieses prototypische Urteil vom galoppierenden Wandel des Menschenbildes deutscher Funktionseliten, der weitaus größere Beachtung verdient hätte. Es ging dabei um die Neubewertung des Paragraphen 217 Strafgesetzbuch (StGB), der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung verbietet. Dagegen haben Suizidhilfe anbietende Vereine mit Sitz in Deutschland und der Schweiz Verfassungsbeschwerde erhoben, unterstützt von Schwerkranken, die ihr Leben mit Hilfe dieser Vereine selbst beenden möchten, sowie von Ärzten und Anwälten, die in der suizidbezogenen Beratung tätig sind.

Das BVerfG folgte deren Argumentation und „kippte“ damit, wie es in manchen Pressekommentaren triumphierend hieß, diesen Tatbestand aus dem Strafgesetzbuch. Das geschah mittels der von Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 2 (Garantie auf Recht, Leben, körperliche Unversehrtheit) angebotenen rechtspolitischen Allzweckwaffen des Grundgesetzes (GG).

Schranken der Persönlichkeitsentfaltung

Die Richter stellen zunächst die paradox klingende Behauptung auf, daß es „ein umfassendes Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit durch Selbsttötung“ gebe, also Selbstverwirklichung durch Selbstabschaffung. Darin erkennt der Philosoph Thomas Sören Hoffmann (Fernuniversität Hagen), der das Urteil einer scharfen, kritischen Analyse unterzieht (Herder-Korrespondenz, 5/2020), bereits einen „grundsätzlichen Abschied von fundamentalen Überzeugungen des europäischen Rechtsdenkens“. Sodann statuiert das Gericht ein „Recht auf Selbsttötung“, das angeblich in der Verfassung enthalten sei. Schließlich, so Hoffmann mit sarkastischem Unterton, behaupte es, dieses von ihm soeben entdeckte „Recht“ sei übertragbar auf Dritte und begründe deren Recht zur aktiven, geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, was Paragraph 217 StGB bislang unter Strafe gestellt hatte.

Einen radikalen Bruch mit dem antiken, christlichen und neuzeitlich-aufgeklärten Rechtsdenken, aus dem sich das vielzitierte „Menschenbild des Grundgesetzes“ bisher ableitet, sieht Hoffmann in der Mißachtung der in Artikel 2, Absatz 1 GG eingebauten Schranken der Persönlichkeitsentfaltung. Einschlägig wäre hier die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ gewesen, die auf die Menschenwürde von Artikel 1 GG und somit auf interpersonale Beziehungen verweise, in denen Freiheitswesen einander als jeweils personalisierten Rechtsursprung anerkennen. Die dadurch für die Entfaltung der Persönlichkeit gegebene Beschränkung bedeute, daß nur solche Handlungen als „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ grundgesetzlichen Schutz genießen, „die würdewahrend in dem Sinne sind, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit einer interpersonalen Koexistenz von Rechtsursprüngen nicht unterlaufen“.

Weder die Selbstauslöschung noch die professionelle Mitwirkung an dieser Auslöschung erfüllen diese Anforderung. Vielmehr hätten diese Akte die „Zerstörung von Interpersonalität“ zu ihrem Inhalt. Das Urteil interpretiere Selbsttötung als Realisierung der Menschenwürde demnach als Lizenz zur Aufkündigung menschlicher Gemeinschaft. Das sei mit der grundgesetzlichen Ordnung der konkreten, nur zwischenmenschlich definierbaren Menschenwürde schlechterdings nicht vereinbar. Diese Ordnung kenne sowenig ein Recht auf Suizid, wie es einen ausschließlich ichbezogenen Begriff, einen Solipsismus der Menschenwürde geben könne.

Exzessive Auslegung von persönlicher „Autonomie“ 

Daher verwundere es auch nicht, daß der entscheidungsleitende, am Ich-Kult des neoliberalen Ökonomismus orientierte, die „Autonomie des Einzelnen“ verhimmelnde „Voluntarismus“ der Karlsruher Richter eine weitere Schranke des Artikels 2 GG ignoriere: das Sittengesetz. Ein Begriff, mit dem es sich schon länger schwertue, weil dieser das Individuum auf nicht in dessen Belieben stehende Normen, auf ein die Gemeinschaft faktisch bindendes Ethos verpflichte. Soweit wie die verfassungsrichterliche Grundgesetz-Exegese darüber hinwegging, erhielt sie übrigens den lautesten Beifall jener journalistischen Claqueure, die – wie der fürs „Katholische“ zuständige FAZ-Redakteur Christian Geyer – in Paragraph 217 StGB eine „Sabotage von Autonomie“ sahen, die Karlsruhe endlich unterbunden habe (FAZ vom 27. Februar 2020).

Für Hoffmann liegt in dieser exzessiven Auslegung von persönlicher „Autonomie“ nur eine schlechte Übersetzung der libertären Losung „Anything goes“. Ein solches „nacktes fac quod vis (tu, was du willst)“ hebe nicht nur den Sinn jeder Berufung auf das Sittengesetz auf und öffne den Markt für „Serviceleistungen“ im florierenden Geschäft mit dem Tod. Sondern: „Es zerstört im Kern auch die Rechtsordnung.“ Insoweit schließt sich die nach Maßgabe anarchistisch-asozialer Denkfiguren à la „Der Einzige und sein Eigentum“ (Max Stirner, 1845) erfolgte juristische Prämierung des Suizids nahtlos an die BVerfG-Entscheidung vom 17. Januar 2017 („NPD-Urteil“) an, die den Begriff des deutschen Volkes im Namen der „Menschenwürde des Individuums“ aus dem GG eliminierte, um die Berufung darauf fortan für verfassungsfeindlich zu erklären.