© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Für Feinheiten fehlten die Antennen
30 Jahre deutsche Einheit: Ein Rückblick auf den Literaturstreit 1990 um Christa Wolf
Thorsten Hinz

Im Sommer 1990 war das große Staunen über den Mauerfall am Abklingen. Auf der Tagesordnung stand statt dessen politischer Pragmatismus. Die ersten freien Wahlen in der DDR hatten westkompatibel mit dem Sieg der CDU geendet. Die Währungsunion war unter Dach und Fach gebracht; jetzt ging es noch um die Modalitäten der staatlichen Einheit. Und um die Frage, was die Zusammenfügung zweier unterschiedlicher Systeme und Erfahrungswelten bedeutete: politisch, historisch, gesellschaftlich, geistig-kulturell.

Es entsprach gut deutscher Tradition, daß die Frage zuerst anhand der Literatur abgehandelt wurde. Den Anlaß gab Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“. Sie berichtet vom wochenlangen Stalking durch Stasi-Männer, dem die wichtigste Autorin der DDR in den 1970er Jahren ausgesetzt gewesen war; von Telefonüberwachung, Abhörwanzen, einer öffentlichen Lesung unter Stasi-Aufsicht; vom Einbruch in die Wohnung unter Hinterlassung dezenter Spuren. Die Autorin machte deutlich, daß sie die Dezenz der Machtdemonstration nur ihrer Prominenz verdankte; normalen Bürgern hätte man die Tür eingetreten. Erzählt wird vom Psychoterror und was er auslöste: Mißtrauen, Angst, psychosomatische Symptome wie Schlaflosigkeit, Übelkeit, Haarausfall. Künstlerisch war der Text keine große Angelegenheit; er war der Versuch einer Selbstverständigung.

Alte Rechnungen und Neupositionierungen

Fast gleichzeitig – am 1. und 2. Juni 1990 – erschienen zwei folgenreiche Rezensionen. Die eine von Ulrich Greiner, Literaturchef der Zeit, der heftig moralisierte: Was Wolf mitteile, seien vergleichsweise „Bagatellen“. Greiner belustigte sich über den „Christa-Wolf-Sound“ aus „anmutiger Melancholie“ und „zarter Entsagung“ und warf der Autorin einen „Mangel an Feingefühl“ gegenüber wirklichen Stasi-Opfern vor.

Auch der Literaturredakteur der FAZ, Frank Schirrmacher, deutete die Erzählung als nachgeholte Opfergeschichte, doch er sondierte tiefer: Er nannte Christa Wolfs Werdegang „exemplarisch“ für DDR-Intellektuelle ihrer Generation. Wolf habe nie den totalitären Charakter des SED-Staates begriffen und die Mechanismen der Diktatur nicht politisch, sondern als innerfamiliäre Angelegenheit unter Antifaschisten betrachtet. Schuldbewußt wegen der NS-Vergangenheit, habe sie die authentische, bürgerliche Familie ihrer Herkunft abgewählt und durch den sozialistischen Staat samt seiner bedingungslosen Treueforderung ersetzt und die im Kampf gegen Hitler gestählten Kommunisten als „wirkliche Helden und neue Väter“ angenommen. Daher sei ihr Werk ein Teil und keine Überwindung des „zweiten totalitären Sündenfalls“.

Die tendenzielle Übereinstimmung der zwei mächtigen Presseorgane, die damals als Antipoden wahrgenommen wurden, setzte einen Gefühlsstau frei, der sich als „Literaturstreit“ entlud. Die Fronten überkreuzten sich: West gegen Ost, rechts gegen links, Ausgereiste gegen DDR-Verbliebene. Alte Rechnungen wurden beglichen, schlecht vernarbte Verletzungen brachen auf, es ging um Neupositionierungen im Kulturbetrieb und um Marktanteile.

Eine politische Denkerin war Christa Wolf gewiß nie gewesen. Doch galt das Verdikt auch für ihre Literatur? Der Publizist Martin Ahrends wies in der DDR-Wochenzeitung Sonntag (aus der Jakob Augsteins Freitag hervorgegangen ist) darauf hin, daß der totalitäre Zugriff das öffentliche Leben im Ostblock zum Erstarren gebracht hatte. Das „Nichtgeschehen“ präsentierte sich als Einheitsgrau und konnte von außen nicht gesehen, sondern nur von innen erlebt werden. Dieses Erleben habe Wolf auf großartige Weise geschildert, „indem sie nämlich sehr genau überliefert hat, was eine solche Wartezeit aus den Menschen macht, die sie durchleben und: Was die Menschen aus ihr machen.“

Für solche Feinheiten fehlten in der aufgeladenen Atmosphäre die Antennen. Die DDR-Autoren, die ihres gesellschaftspolitischen Bezugssystems verlustig gegangen und mit ganz praktischen Schwierigkeiten konfrontiert waren, verstummten. Der Osten war bis auf weiteres diskursiv enteignet und spielte in den Folgedebatten keine eigenständige Rolle mehr. 

Im Rückblick erweist sich, daß der Ost-West-Konflikt zwar der Auslöser, aber nicht das Herzstück des Literaturstreits war. Seine Fortsetzung und entscheidende Wendung fand er am 2. Oktober 1990. Einen Tag vor der Wiedervereinigung verkündete Frank Schirrmacher im FAZ-Aufmacher zur Buchmesse den „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“. Falsch sei die Heldenerzählung über die fortschrittlichen Literaten der „Gruppe 47“, die sich gegen eine restaurative Gesellschaft mühsam Gehör verschaffen mußten. Vielmehr sei der Literaturbetrieb „eine der Produktionszentralen des bundesrepublikanischen Bewußtseins“ und die Nachkriegsgesellschaft begierig gewesen, von ihm „mit neuen Pässen und neuen Biographien“ versehen zu werden. Unter der Ägide von Böll, Grass & Co. sei „aus dem Schuldigen des Krieges der westdeutsche Zivilisationstyp“ hervorgegangen. Wie in der DDR habe die BRD-Literatur eine öffentliche Legitimationsfunktion für Staat und Gesellschaft innegehabt. Damit sei es nun vorbei. „Sie kann ein Ich, über das sie nicht mehr verfügt, auch niemand mehr zur Verfügung stellen.“

Einen Monat später schaltete sich nochmals Ulrich Greiner mit seinem Aufsatz „Die deutsche Gesinnungsästhetik“ ein. Mit dem an Max Webers Gesinnungsethik gemahnenden Begriff gelang ihm eine bleibende Bereicherung des literaturwissenschaftlichen Vokabulars. In beiden deutschen Staaten, so Greiner, habe die Literatur an „moralischer Überlast“ und der Beauftragung mit „außerliterarischen Themen“ gelitten: „mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus etcetera“, wobei „das Gewissen, die Partei, die Politik, die Moral, die Vergangenheit“ die Auftraggeber gewesen seien. Autor, Werk und der Anspruch auf universelle Moral hätten eine sakrale Einheit gebildet und als solche auf ihrer Unangreifbarkeit bestanden. Dieser Sonderfall sei durch das Ende der DDR und der deutschen Teilung in den Orkus gestürzt.

Verharren in den geistigen Grenzen der Bundesrepublik

Die priesterliche Rolle deutscher Nachkriegsautoren hatte kurz zuvor schon Karl Heinz Bohrer, Herausgeber des Merkur und dritter Hauptprotagonist der Debatte, kritisiert. In einem hochkomplizierten Aufsatz über die „Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit“ forderte er eine von politischen, metaphysischen, psychologischen Erwartungen und Implikationen befreite, allein am ästhetischen Mehrwert orientierte Literatur.

Das war ein deutlicher Seitenhieb gegen die politisch engagierte Literatur in Ost und West, den er in der parallel publizierten Glosse „Kulturschutzgebiet DDR“ konkretisierte. Mehr als um Christa Wolf ging es darin um ihre westdeutschen Verteidiger. Diese Kulturpastoren – namentlich erwähnte er Günter Grass und Walter Jens –, die im Namen höherer Ideen schlechte Bücher schrieben und das „lustvolle Bekennen der eigenen ‘Schuld’ vor Publikum“ zu ihrem Markenzeichen gemacht hätten, seien von der Situation politisch und intellektuell überfordert. „Es wäre eine unerquickliche Aussicht, wenn dieses Milieu für die nächsten Jahre erneut unser Klima bestimmte, wenn uns seine dumpfe ‘Trauerarbeit’ (…) als emphatisches Projekt angepriesen würde.“

Der Literaturstreit war für Bohrer der Anwendungsfall eines umfassenden Problems. Seine Positionierung dazu bildete den Auftakt zu den 1991 publizierten „Provinzialismus“-Glossen, in denen er die Bonner Republik einer schneidenden Kritik unterzog. Ihre blitzblank aufgeräumten, durch Bomben und Wiederaufbau ihrer Seele beraubten Provinzstädte entsprächen einem hegemonialen Kleinbürgertypus, aus dem sich auch die politische Klasse rekrutiere. Dieser gehe „die sperrige Tiefendimension von kulturellem historischem Bewußtsein“ völlig ab, was sie unfähig mache, mit widersprüchlichen Situationen, mit Opposition und Konflikten fertig zu werden. Mit dem sentimentalen, „vor Selbständigkeit zurückscheuenden deutschen Nachkriegsbewußtsein“ sei die Politik „geschrumpft zur Ökologie und technisch-wirtschaftlicher Hygienik, kein Gedanke an politisch-strategische Verantwortlichkeiten jenseits der bundesrepublikanischen Grenzen“.

Mit dem Furor des historischen Schicksalsjahres 1989 im Rücken war Bohrer, Greiner und Schirrmacher ein konservativer Schlag gegen das linksliberale Meinungslager gelungen. Es sollte auch der letzte sein. Obwohl er mit einem klaren Punktsieg endete, hat er weder etwas aufgehalten noch verhindert: 30 Jahre später liegt die priesterliche Würde der Kulturpastoren ganz demokratisch in den Händen eines ungebildeten Meinungspöbels; ist die Sentimentalisierung des Politischen parteiübergreifender Konsens geworden und hat Ulrich Greiner allen Grund zur Klage, als Konservativer „heimatlos“ zu sein. 

Die Folgenlosigkeit der konservativen Frondeure von 1990/91 erklärt sich aus ihrem Verharren in den geistigen Grenzen der Bundesrepublik. Der Mißerfolg zeichnete sich bereits in der wütenden Zurückweisung ab, die Hans-Jürgen Syberbergs gleichfalls im Sommer 1990 erschienene Streitschrift „Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege“ namentlich aus dem konservativen Lager erfuhr.

In der kommenden JF-Ausgabe 29/20 folgt ein zweiter Teil zum Literaturstreit.