© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Erfolglose Geheimgespräche
Vor 70 Jahren wurde das Oder-Neiße-Abkommen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen geschlossen
Jürgen W. Schmidt

Am 6. Juli 1950 unterzeichneten der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl und der polnische Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz im Kulturhaus der Stadt Zgorzelec, bis Kriegsende 1945 war es ein Vorort von Görlitz auf dem jenseitigen Neiße-Ufer gewesen, den „Görlitzer Grenzvertrag“. Bekannt geworden ist dieses Dokument als „Oder-Neiße-Abkommen“.

In diesem Vertrag verzichtete die noch nicht einmal ein Jahr existierende DDR verbindlich auf alle jenseits von Oder und Lausitzer Neiße befindlichen deutschen Territorien und übereignete sogar die westlich der Odermündung gelegenen Städte Stettin und Swinemünde nebst Teilen der Insel Usedom an Polen. Vollmundig erklärte DDR-Ministerpräsident Grotewohl auf einer deutsch-polnischen „Freundschaftskundgebung“ am 8. Juli 1955 in Warschau anläßlich des wenige Wochen zuvor als „Warschauer Vertrag“ signierten Militärpakts der Sowjetunion mit ihren europäischen Satellitenstaaten: „Ich benutze die heutige Gelegenheit; um noch einmal mit aller Eindeutigkeit zu erklären, daß die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik die Oder-Neiße-Grenze als feststehend und endgültig anerkannt hat und daß sie entschlossen ist, zusammen mit den anderen Signatar-Staaten des Warschauer Vertrags die Oder-Neiße-Friedensgrenze mit allen Kräften zu verteidigen, damit sich an dieser Stelle kein neuer Weltbrand entzündet“.

Ganz so eindeutig war die Grenzziehung von 1950 selbst kurz zuvor bei den höchsten SED-Funktionären nicht gewesen. Der spätere DDR-Präsident Wilhelm Pieck, aus Guben an der Neiße gebürtig, hatte 1946 seinen Gubener Landsleuten versichert, daß sie schon bald wieder in den jenseits der Neiße gelegenen Teil Gubens zurückkehren könnten. Im Vorfeld der Wahlen zu den Landtagen in der Sowjetischen Besatzungszone verkündete Walter Ulbricht im Herbst 1946: „Jedermann sollte es klar und eindeutig wissen: Die SED hat sich mit der gegenwärtigen Ostgrenze nicht abgefunden.“ Wilhelm Pieck verlangte namens der SED in diesem Zusammenhang, „daß auf der kommenden Friedenskonferenz die Ostgrenze einer Revision unterzogen“ werde.

Ausgerechnet Otto Grotewohl erklärte 1947 öffentlich: „Die SED bedauert jede Grenzveränderung. Die Oder-Neiße-Grenze wird von ihr genauso abgelehnt wie die Grenzveränderungen im Westen“, um dann im Juli 1950 erfolgreich umzufallen und das ganze Gegenteil des Gesagten zu tun. Die SED-Führer betrachteten damals tatsächlich den Übergang deutscher Gebiete „unter polnische Verwaltung“, wie er in Jalta 1944 angedacht und 1945 in Potsdam notariell besiegelt worden war, nur als zeitweilig sowie als teilweise revisionsbedürftig. In Geheimgesprächen versuchte Walter Ulbricht die polnischen Kommunisten zu bewegen, wenigstens auf eine künftige Grenze an der Lausitzer Neiße zu verzichten und die Grenze an der Glatzer Neiße zu ziehen, wodurch beachtliche Teile Schlesiens deutsch geblieben wären.

Doch über die künftige deutsch-polnische Grenze entschieden weder die deutschen noch die polnischen Kommunisten. Stalin und sein außenpolitischer Spezialist Molotow hielten es für angezeigt, die innerlich rußlandfeindliche polnische Nation auf Kosten des Kriegsverlierers Deutschland mit der Sowjetunion zu versöhnen. Gerade weil der neue polnische Staat auf beachtliche ostpolnische Gebiete verzichten mußte, welche an die Sowjetunion fielen, wollte man Polen im Westen territorial befriedigen. Walter Ulbricht biß gehorsam und unter Verzicht auf eigene Wünsche in den sauren Apfel und reiste an der Spitze einer DDR-Delegation nach Warschau, um dort am 5. und 6. Juni 1950 mit dem polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz die „Warschauer Deklaration“ über den künftigen deutsch-polnischen Grenzverkauf auszuhandeln, deren Resultate einen Monat später regierungsamtlich in Zgorzelec unterzeichnet wurden. 

Versuche der DDR, Gebiete um Stettin zu kontrollieren

Kaum bekannt ist, daß man seitens der SED-Führung trotz des im Juli 1950 unterzeichneten „Oder-Neiße-Abkommens“ keineswegs alle Ambitionen auf eine Teilrevision der Oder-Neiße-Grenze aufgab. Sofort nach dem Tod Stalins begann die SED-Führung unter Walter Ulbricht auf dessen Nachfolger in Moskau einzuwirken, die territoriale Lage im Raum Stettin zu revidieren. Seitens der DDR wurde ab 1953 angestrebt, zumindest eine „Freihafenzone“ für die DDR in Stettin zu erwerben. Desgleichen sollten einige einst deutsche Ortschaften auf Usedom wie Neuwarp, Ziegenort, Pölitz und Falkenwalde an die DDR übergeben werden. Doch diese versteckt betriebenen Ambitionen scheiterten endgültig im Jahr 1956 am entschiedenen Widerspruch der polnischen Kommunisten, welche ultimativ in Moskau erklärten, gegenüber dem polnischen Volk derartige Grenzrevisionen nicht durchsetzen zu können. 

Namens der Bundesrepublik Deutschland bestritt man ab 1950 der DDR das Recht, einseitig auf ehemals deutsche Territorien zu verzichten. Aber spätestens seit dem Jahr 1970 erkannte man auch seitens der Bundesrepublik die getroffene Grenzziehung de facto an, und man bestätigte sie schließlich völkerrechtlich verbindlich im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung mit dem Grenzvertrag vom 14. November 1990.