© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Individuelles Sperrgebiet
Sommer 2020: Die Mindestabstände an Nord- und Ostsee lassen Strandkörbe zu „kleinen Reichen“ werden
Paul Leonhard

In seinen „Buddenbrooks“ schreibt Thomas Mann von einer „Reihe hölzerner Strandpavillons“, die den „Durchblick auf die Strandkörbe freiließ, die näher am Wasser standen“. Womit dem Großschriftsteller ein kleiner Fehler unterlief. Denn Strandkörbe gab es 1845 noch nicht. Sie wurden erst 1882 erfunden.

Aber Mann liebte „die schützenden Seitenwände des Strandkorbes, dieses von jung auf vertrauten und eigentümlich bergenden Sitzhäuschens“, das für ihn den „herrlichsten Arbeitsplatz“ bildete.

Hunderte exakt ausgerichtete Strandkörbe sind längst ein Symbolbild für die deutschen Meeresküsten. Selbst wenn die Möbel im Verlauf des Sommertages verrückt wurden, konnten sich deren Mieter gewiß sein, sie am nächsten Morgen wieder in Reih und Glied vorzufinden. Da waren die Vermieter eigen. Und auf diesen tiefsitzenden Ordnungssinn bauen auch die Ministerpräsidenten der Küstenländer in ihren pandemiebedingten Abstandsregeln im Sommer 2020. 

Auf Usedom in Mecklenburg-Vorpommern gilt an den Stränden von Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin ein Mindestabstand von zwei Metern von Korb zu Korb, im niedersächsischen Norddeich und an der Nordseeküste von Büsum in Schleswig-Holstein von fünf, in Butjadingen (Niedersachsen) gar von zehn Metern. In den Badeorten Scharbeutz, Sierksdorf und am Timmendorfer Strand hat man errechnet, daß der Abstand mindestens 3,20 Meter betragen muß. Daß Versetzen der Körbe ist ebenso streng verboten wie das Liegen zwischen ihnen. Nach jedem Gebrauch müssen die Möbel desinfiziert werden, meist von den Benutzern selbst, worüber Sicherheitskräfte wachen. Neue deutsche Strandidylle: Abgeschirmt in seinem kleinen Quarantänezentrum muß niemand den Nachbarn auch nur zur Kenntnis nehmen – ungestörte kleine Reiche.

Über das massenhafte Auftreten des speziellen Sitz- und Ruhemöbels (70.000 bis 100.000 soll es an den deutschen Ständen geben) waren Briten und Franzosen einst so verblüfft, daß sie das Wort „Strandkorb“ in ihren Sprachschatz aufnahmen. Dabei kannte man auch dort jene geflochtenen Weidensessel mit hochgezogenen Rücken- und Seitenteilen, die die Menschen in ihren großen und kalten Wohnräumen vor Zugluft schützten. Nur kam niemand auf die Idee, sie an den Strand zu schleppen. 

Das blieb der von Rheuma geplagten Elfriede von Maltzahn vorbehalten, die 1882 beim in Rostock ansässigen Wilhelm Bartelmann einen Stuhl in Auftrag gab, der sie am Strand vor Wind und Sonne schützen sollte.

Der kaiserliche Hofkorbmacher erfand den Strandkorb, seine geschäftstüchtige Frau später den gewerblichen Strandkorbverleih. Die abendländische Badekultur war um eine deutsche Nuance reicher. Bartelmanns Nachfolger fügten noch einige Details hinzu und seitdem ist dieses „Sitzhäuschen“ Standard an Nord- und Ostsee: 160 Zentimeter hoch, als Zweisitzer 120 Zentimeter breit und 70 bis 80 Kilo schwer. Ausgekleidet mit einem wetterfesten Stoff, verfügt es über gepolsterte Fußkästen, abklappbare Markisen, Klapptischchen und vor allem ein verschließbares Gitter, damit sich nicht etwa nachts Liebespärchen in ihm kostenlos vergnügen – getreu einem frivolen Schlagertext von 1993: „Wenn die Strandkörbe wackeln, mein Kind, ja dann ist das nicht immer der Wind.“ 

Kenner unterscheiden zwei Arten von Strandkörben: Der für die Ostsee typische hat abgerundete, geschwungene Seitenteile und eine gebogene Haube, die Nordseeform weist dagegen gerade Seiten und ein kantig wirkendes Oberteil auf. Beide eint, daß sie in einem Winkel von 55 Grad nach hinten verstellt werden können, wobei es die von der Nordsee mitunter als Liegemodell auf 90 Grad bringen, die als gefälliger geltenden der Ostsee sind dagegen mehr verbreitet. 

Warum das so ist, ist ebenso unklar wie das Phänomen, daß sich Strandkörbe an deutschen Küsten durchsetzten, an Stränden fremder Länder mit ähnlicher Witterung dagegen nicht. Selbst die Niederländer gaben ihre Strandkorbtradition 1945 auf und setzten auf schnöde Plasteliegen.

Modelle für zu Hause mit voller Ausstatting

Liegt die  Vorliebe der Deutschen für den Strandkorb nun in ihrer romantischen Sehnsucht nach dem Verschmelzen von Sinnlichkeit und Erkenntnis an einem geschützten Ort oder an einer „Tradition“ einer deutschen Zaun- und Abgrenzungsmentalität, wie andere böswillig unterstellen – das „Küsten-Äquivalent des deutschen Schrebergartens“ bei gleichzeitigem Blick auf die Weite des Meeres.

Aber auch an seinen einstigen Ausgangsort ist er zurückgekehrt: in die Wohnungen der Innenstädte, wo er zwar die Bewohner nicht mehr vor Zugluft schützen muß, sie aber auf Balkonen oder Terrassen von Ost- oder Nordsee träumen läßt. Mitunter sogar als Luxusausführung mit eingebauter Heizung, gekühlter Bar und Musikanlage. So wäre man zumindest für eine mögliche Quarantäne voll ausgestattet.