© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

„Wegsperren, solange es nötig ist“
Kindesmißbrauch: Nach neu entdeckten grauenvollen Fällen will die Politik nun die Täter besser verfolgen und härter bestrafen lassen
Jörg Kürschner

Aufgeschreckt durch eine Serie grauenvoller Fälle von Kindesmißbrauch drückt die Politik jetzt aufs Tempo: Nach dem Bundestag fordert nun auch der Bundesrat deutlich härtere Strafen für Kinderschänder, häufen sich doch die Skandale in den vergangenen Jahren. Zum dritten Mal nach den Taten von Lügde und Bergisch Gladbach hatten die Ermittler Anfang Juni in Münster innerhalb von nur eineinhalb Jahren in Nordrhein-Westfalen schwere Mißbrauchsfälle aufgedeckt. Der Innenminister des Landes, Herbert Reul (CDU), gab die Richtung der Politik vor. „Kindesmißbrauch kann nicht bestraft werden wie Ladendiebstahl, es ist Mord, nicht körperlich, aber seelisch. Wer sich an Kindern vergeht, wird als Verbrecher bestraft. Punkt.“

Leid der Opfer im Strafmaß widerspiegeln

Der Politiker sieht seine Strategie im Kampf gegen Kindesmißbrauch vorerst bestätigt. Zwischen Rhein und Ruhr wurden alle Polizeibehörden mit dem Landeskriminalamt vernetzt. Das Personal für den Komplex Kindesmißbrauch und damit verbundene Pornographie wurde auf rund 400 Beschäftigte fast vervierfacht. So hat sich die Zahl der Ermittlungsverfahren innerhalb eines Jahres verdoppelt: Im März 2020 waren es 3.709, im Vorjahr nur 1.895. Insgesamt haben die Fahnder, kaum zu fassen, 30.000 unbekannte potentielle Konsumenten von Kinderpornographie im Visier. In der vergangenen Woche waren 180 Polizeibeamte in vier Bundesländern im Einsatz, um drei mutmaßliche Täter zu verhaften und drei weitere zu überprüfen. Damit erhöhte sich die Zahl der Beschuldigten im Fall Münster auf 21, elf von ihnen sitzen in Untersuchungshaft. Die Strafverfolger identifizierten inzwischen sieben Opfer.

Am vergangenen Freitag hat der Bundesrat einen Gesetzentwurf Nordrhein-Westfalens beraten, der eine Strafverschärfung bei sexuellem Mißbrauch von Kindern und somit die Hochstufung von einem Vergehen zu einem Verbrechen vorsieht. Es dürfe grundsätzlich keine Bewährungsstrafe geben, wenn sich jemand an der Vergewaltigung von Kindern beteilige, heißt es in dem Entwurf.

Das Vorgehen in der Länderkammer stand in einem gewissen Kontrast zur holprigen Meinungsbildung in der Berliner Großen Koalition. Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte zunächst argumentiert, bei einer Hochstufung von Vergehen zu Verbrechen könnten die Gerichte auf „Straftaten mit einem nur geringen Unrechtsgehalt nicht angemessen reagieren“. Daß die Bundesjustizministerin „da nicht aus dem Quark kommt, ist ärgerlich“, konterte Reul. Doch dessen beharrliches Drängen auf ein „Signal gegenüber Tätern und Opfern“ und heftige Attacken von CDU und CSU führten bald zu einer Kehrtwende der SPD-Politikerin, die zunächst auf bessere Prävention gesetzt hatte. Jetzt hieß es: „Wegsperren, solange es nötig ist.“ Jeglicher Kindesmißbrauch solle künftig als Verbrechen gewertet werden. Dadurch ist eine Einstellung von Verfahren nicht mehr möglich. 

Der Strafrahmen soll von bisher sechs Monaten bis zehn Jahren Gefängnis auf ein bis fünfzehn Jahre steigen. Bei schwerer „sexualisierter Gewalt“, wie Kindesmißbrauch künftig bezeichnet werden soll, sollen Beschuldigte auch dann in Untersuchungshaft kommen können, wenn keine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorliegt. Taten ohne Körperkontakt wie sexuelle Handlungen vor den Augen eines Kindes sollen als eigener Tatbestand mit dem bisherigen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. 

Und der Zungenkuß zwischen einem 16- und einer 13jährigen, Lambrechts Einwand gegen höhere Strafen? Geplant ist eine Sonderregelung, die einen Verzicht auf Strafverfolgung vorsieht. „Auf gleichrangige Interaktionen zwischen jungen Menschen, die Teil der sexuellen Entwicklung sind, soll nicht unverhältnismäßig reagiert werden“, heißt es in ihrem Konzept.

Auch die Verbreitung von Kinderpornographie will Lambrecht schärfer ahnden. Ein bis zehn Jahre Gefängnis statt bislang drei Monate bis fünf Jahre. Wer solches Material besitzt, dem sollen künftig ein bis fünf Jahre Haft drohen, statt bisher eine Geldstrafe oder bis zu drei Jahre Haft. Das Leid der Kinder müsse sich im Strafmaß widerspiegeln, sagte die Ressortchefin.

Das Justizministerium wird jetzt einen Gesetzentwurf ausarbeiten, der anschließend vom Kabinett gebilligt werden muß. Danach wird er vom Bundestag beraten. Bereits jetzt werden Änderungsvorschläge laut. „Es muß zum Beispiel möglich sein, im Internet verdeckt Daten zu beschlagnahmen, um die Kriminellen nicht vorzeitig zu warnen“, fordert CDU/CSU-Fraktionsvize Thorsten Frei. Die zunehmenden Fälle von Kindesmißbrauch decken sich mit der Statistik des Bundeskriminalamts (BKA), die Präsident Holger Münch Mitte Mai vorgelegt hatte. Danach wurden im vergangenen Jahr 15.936 Fälle sexueller Gewalt registriert, im Vergleich zu 2018 ein Anstieg von mehr als tausend Fällen. Das bedeutet, daß 2019 jeden Tag durchschnittlich 43 Kinder Opfer geworden sind. Nach Ansicht von Experten findet sexuelle Gewalt am häufigsten innerhalb der engsten Familie statt – diese Taten machen rund ein Viertel der Fälle aus. Weitere 50 Prozent der Gewalttaten werden im weiteren Familien- und Bekanntenkreis verübt. Gestiegen ist auch die Zahl der Opfer sexuellen Mißbrauchs von 14.410 auf 15.701. 

Die Zahlen zeigten nur das sogenannte Hellfeld an, ließen aber keine Rückschlüsse auf die tatsächlich begangenen Taten zu, weil viele Delikte nicht angezeigt würden, kommentierte Münch die Statistik. Zudem stieg die Zahl der gemeldeten Fälle der Verbreitung von Kinderpornographie: 12.262 Fälle registriert die Statistik, eine Steigerung um 65 Prozent.