© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Berichte aus der Befehlswirtschaft
30 Jahre Treuhand: Hat die Abwicklungsbehörde den Osten ausgeplündert? Sind die zahlreich auch heute noch verbreiteten Vorwürfe gegen das einst größte Unternehmen der Welt berechtigt? Der Hamburger Ökonomieprofessor Dirk Meyer faßt den Zustand der DDR-Wirtschaft 1989 zusammen

Zentrale Planung zeigt ihre Irrtümer täglich deutlicher

Die Zentralverwaltungswirtschaft der DDR gründete auf zwei Fundamenten: dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln und der zentralen staatlichen Planung wesentlicher Wirtschaftsprozesse, die auch die Lenkung und Kontrolle von Produktion, Verteilung und Verwendung aller wichtigen Güter den hierfür zuständigen Ministerien unterstellte. Diesen hierarchisch-bürokratischen Apparat befehligten das Politbüro und das Zentralkomitee der SED – deshalb auch der Begriff „Befehlswirtschaft“. 

Die wirtschaftlichen Ziele wurden in Fünfjahresplänen festgeschrieben. In einem papieraufwendigen Meldewesen gaben die Betriebe Kapazitäten (Planangebote) nach oben weiter und erhielten Leistungsvorgaben von dort. Nach der Produktion gaben sie Planerfüllungs­abrechnungen zurück. Dies führte zu zwei systemimmanenten Problemen: Informationsmängeln und Fehlanreizen. Die Zentrale war auf Informationen „von unten“ angewiesen. Informationszurückhaltung und falsche Angaben waren daher an der Tagesordnung, erleichterten sie doch die Planerfüllung.

Prämien für Planübererfüllungen belohnten daher in Wirklichkeit Unwirtschaftlichkeiten und machten die Fehlanreize deutlich. Kein Wettbewerb und Strafen bei Planabweichungen verhinderten Anstrengungen zu technischem Fortschritt. Effizienzsteigernde Innovationen wurden faktisch bestraft, indem Pläne daraufhin angehoben wurden. Infolge fehlender Marktpreise und „falscher“ Planpreise wurde Knappheiten und Bedürfniswandel nur ungenügend Rechnung getragen. Notwendige Anpassungen unterblieben. Zusammengenommen zeigte sich: das Staatseigentum förderte bei Trennung von Entscheidung und Haftung Unwirtschaftlichkeiten.

So orientierten sich die Planvorgaben vorrangig an Gewicht oder Anzahl der Produkte – die sogenannte Tonnen­ideologie –, da Qualitätsvorgaben nur aufwendig zu beschreiben sind. Diese Vorgabe führte bei einem lederverarbeitenden Betrieb zur Produktion von groben Fußbällen statt feinen Lederhandtaschen.





Mangelwirtschaft: DDR zehrte von ihrer Substanz

Die DDR kennzeichnet eine Ökonomie des ständigen Mangels. Paradoxerweise hatte sie jahrzehntelang über ihre Verhältnisse gelebt, so daß 1989 die Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem Westen drohte. Um die Bevölkerung dagegen ruhig zu halten, stand die Konsumgüterproduktion im Vordergrund.

Da die Nachfrage nach solchen Gütern schneller als die Wirtschaftsleistung stieg, mußten Investitionen in neue Produktionsanlagen vermehrt zurückgefahren werden, um über Westkredite Importe zu beschaffen. Selbst notwendige Erhaltungsinvestitionen unterblieben. Es wurde von der Substanz gezehrt. Die Verschleißquote maschineller Ausrüstungen der Industrie stieg von 42 (1975) auf 54 Prozent (1989), im Handwerk sogar von 32 auf 54 Prozent. Das durchschnittliche Alter der Maschinen lag in der DDR bei 18 Jahren – in der BRD bei acht Jahren. Umweltverschmutzung und gesundheitliche Einschränkungen zeigten sich in einer verringerten Lebenserwartung und höherem Krankheitsrisiko. 

Hohe Subventionsraten für Brennstoffe (1988: 70 Prozent), Nahrungsmittel (50 Prozent) und Kleidung (30 Prozent) belasteten den Staatshaushalt. Parallel dazu wurde der Nachfrageüberhang durch Zwangssparen und Wartezeiten von über 10 Jahren für einen neuen Trabant reguliert. Nicht nur die Staatsverschuldung stieg durch direkte Kreditaufnahme bei der Ost-Berliner-Staatsbank von 12 Milliarden Mark (M) im Jahr 1970 auf 123 Milliarden M 1988. Probleme bereitete vor allem die Verschuldung gegenüber dem Westen, die von zwei Milliarden Deutschen Mark (DM) 1970 auf 49 Milliarden DM im Jahr 1988 stieg. 

Diese ließ sich nicht per Notenpresse beseitigen, so daß ein erheblicher Teil des Produktionsapparates für Exporte gebunden war. Bei niedriger Arbeitsproduktivität von im Durchschnitt etwa 50 Prozent im Vergleich zu Westdeutschland war dies ein Kampf gegen Windmühlen. Die sinkende Wettbewerbsfähigkeit spiegelt auch der einbrechende Wechselkurs der Mark zur Westmark von 2,4 zu eins (1980) auf 3,3 zu eins (1989) wider. 





Währungsreform: Umstellung war ein Schock

Nach der Grenzöffnung und dem Fall der Mauer 1989 drohte durch Abwanderung junger Ostdeutscher eine völlige Destabilisierung der DDR-Wirtschaft. Deshalb schien die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 unvermeidlich. Löhne/Gehälter, Mieten und Pachten sowie Renten wurden eins zu eins umgestellt, Kredite und Guthaben allgemein zwei zu eins. Ökonomisch kam dies für Wirtschaftsbereiche mit überregionaler Konkurrenz einer Katastrophe gleich. Quasi über Nacht hatte sich der Wechselkurs von 4,3 Mark zu einer Deutschen Mark um über 300 Prozent auf eins zu eins erhöht. 

Die Industrieproduktion halbierte sich innerhalb von sechs Monaten. Zudem sollten die Ostlöhne in wenigen Jahren auf Westniveau steigen. Den Gewerkschaften saßen Funktionäre der West-Arbeitgeberverbände und Betriebsleiter der volkseigenen Betriebe gegenüber. Die einen wollten ihre Mitgliedsfirmen im Westen vor Konkurrenz schützen, die anderen wollten ihre Stellung als alte Kader behalten. Wirtschaftliche Vernunft hatte so keine Chance. Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, ABM-Maßnahmen und Weiterbildung traf 1991 für etwa 2,5 Millionen der circa 9,9 Millionen Erwerbspersonen zu. Erschwerend kamen wegbrechende Netzwerke und Wertschöpfungsketten bei den Kombinaten und im Ostblock hinzu. 

Das neue Denken – Freiheit, Eigeninitiative, Haftung – scheiterte insbesondere bei älteren Ostdeutschen an der von ihnen verinnerlichten, alten Mentalität. Die Anpassung an die Erfordernisse des Marktes, eine Nachfrage-/Knappheitsorientierung mußten erst schmerzlich gelernt werden. Zudem waren „Westprodukte“, die zumeist über den Versandhandel bezogen wurden, mehr gefragt als die qualitativ teils ebenbürtige ostdeutsche Produktion. Effiziente, einem föderativen Staatsaufbau entsprechende Verwaltungsstrukturen mußten erst entstehen. Weiter behinderten ungeklärte Besitzverhältnisse sowie ein Alt-Eigentümervorrang einen schnellen Neuanfang. 





Hätte es Alternativen gegeben?

Angesichts dieser Verwerfungen, hinter denen immer auch persönliche Schicksale stehen, ist die Frage nach möglichen Alternativen angebracht. Dies gilt um so mehr, als das zwischen 1991 bis 2010 laut Ifo-Institut 3,4 Billionen Euro als Unterstützungen – zu zwei Dritteln Sozialleistungen – in die neuen Bundesländer flossen. Es drohte durch die Abwanderungen, Humankapital verloren zu gehen. Doch zogen schon 1989 und 1990 etwa 780.000 Ostdeutsche in den Westen, so daß diese meist jungen Arbeitskräfte nicht mehr aufzuhalten waren. Schließlich führte der ökonomische Exodus 1990 in vielen Regionen gerade zu der Wanderungsbewegung, die man vermeiden wollte.

Eine deutsch-deutsche Konföderation mit weiterhin bestehender durchlässiger Grenze wäre, das läßt sich im nachhinein sagen, eine Alternative gewesen. Die Währungsumstellung hätte über einen Zeitraum von 10 Jahren in festen, vorhersehbaren Anpassungskursen ablaufen können. Ähnlich wie in osteuropäischen Staaten hätte der Wechselkurs einen Teil der Anpassungslasten abfedern können – bei langsamer Verbesserung der materiellen Lebenssituation. Die Privatisierung der staatlichen Betriebe und eine allmähliche Steigerung der Produktivität hätten so mehr Chancen gehabt. Ebenso hätte die Sozialunion dann schrittweise mit der wirtschaftlichen Integration vollzogen werden können. Statt der Angliederung an Westdeutschland mit vermeintlich „blühenden Landschaften innerhalb von fünf Jahren“ wäre eine echte Wiedervereinigung – auch im Selbstverständnis der Ostdeutschen – möglich gewesen.





50 Minuten Nacharbeit

„Die vom Werk Dessau des VEB Kinderfahrzeuge Mühlhausen ausgelieferten Fahrräder tragen zwar den Stempel der Endkontrolle auf den Begleitpapieren, jedoch muß der Servicemonteur der Verkaufsstelle bis zu 50 Minuten nacharbeiten, um das Fahrrad in einen fahrtüchtigen Zustand zu versetzen.“

Notiz für das Büro Günter Mittag, Politbüro des ZK der SED vom 24. Mai 1989





„Bummelanten“

„Die Ausfallzeiten durch unentschuldigtes Fehlen nehmen seit Jahren zu. In der zentralgeleiteten Industrie stiegen sie von 3,9 Stunden je VbE [Vollbeschäftigteneinheit] im Jahre 1983 auf 6,3 Stunden im Jahre 1988. (...) Etwa 80 Prozent der Arbeitsbummelanten sind Werktätige, die gelegentlich, bis zu fünfmal im Jahr, der Arbeit fernbleiben. Die Zahl dieser Werktätigen und die von ihnen verursachten Fehlzeiten nahmen in der Mehrzahl der Betriebe 1988 gegenüber 1987 zu. Die Bummelanten ‘begründen’ ihre Disziplinlosigkeit mit ‘verschlafen’, ‘zuviel gefeiert’, dringenden persönlichen Besorgungen und anderem. Ihre leichtfertige Arbeitseinstellung wird mitunter begünstigt durch unkontinuierliche Produktion mit Warte- und Stillstandszeiten, unzureichender Kontrolle und liberaler Haltung einzelner Leitungskader.“

Schreiben des Staatssekretärs für Arbeit und Löhne an Günter Mittag vom 8. Februar 1989





„Dachschäden“

„Verschärft werden die Lagerbedingungen durch eine Vielzahl undichter Dächer. Die Dachschäden sind insbesondere bei Scheunen, Ställen und Tanzsälen teilweise so groß, daß vom Lager aus der Himmel sichtbar ist und die Ware zum Teil manuell von den Lagerarbeitern bewegt werden muß, um sie bei Regen an trockenen Lagerflächen unterzustellen.“

Bericht des Komitees der Arbeiter- und Bauerninspektion an Werner Jarowinsky, Politbüro des ZK der SED vom 29. Februar 1989