© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Wirklichkeit als Weltanschauung
Der Eremit von Altenberge: Zum 100. Geburtstag des Philosophen Hans Blumenberg
Wolfgang Müller

Seine Vorlesungen über Aristoteles (384–323 v. Chr.) soll Martin Heidegger mit einer biographischen „Einleitung“ begonnen haben, die sich in der Nennung von Geburts- und Sterbejahr erschöpfte, um dann fortzufahren: „Wir kommen zum Werk.“

Für eine Erinnerung an Hans Blumenberg scheint das ein nachahmenswert minimalistisches Muster vorzugeben: Geboren vor hundert Jahren, am 13. Juli 1920 in Lübeck, gestorben am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Obwohl die Quellen über die Erdenspur dieses modernen Denkers naturgemäß reichlicher fließen als über die des antiken Klassikers, könnte man es doch dabei bewenden lassen, weil schon zu Lebzeiten des äußerste „soziale Distanz“ wahrenden, öffentlichkeitsscheuen Nachtarbeiters die Fama umlief, Hans Blumenberg sei ein unablässig opulente Bücher produzierendes Phantom. Dagegen kam auch die Versicherung eines Augenzeugen, der ihm etwas näher stand, des „Transzendentalbelletristen“ Odo Marquard, kaum an, sein Kollege existiere tatsächlich, denn er habe ihn schon gelegentlich gesehen und ihm die Hand gegeben.

Gleichwohl: Bis heute fehlt eine Biographie, die diesen Namen verdient. Mehr als Bruchstücke dazu, unter denen der Briefwechsel (1961–1981) mit dem jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes noch die kräftigsten persönlichen Konturen vermittelt, sind bislang nicht greifbar. Weder über die traumatisierenden Jugenderlebnisse des nach 1933 als „Halbjude“ stigmatisierten, in den letzten Kriegsmonaten im Untergrund überlebenden, in der norddeutschen katholischen Diaspora aufgewachsenen Bürgersohnes, noch über den raschen akademischen Aufstieg, der ihn nach der Kieler Habilitation (1950) über Professuren in Hamburg, Gießen und Bochum 1970 endlich auf den Lehrstuhl Joachim Ritters in Münster führte, ist etwas im Detail bekannt. Was die nicht nur von Heidegger gepflegte Legende von der Zeitferne wahrhaft großer Philosophie zu bestätigen scheint. Die allerdings so glaubwürdig ist wie die von Juristen gern behauptete Unabhängigkeit der Justiz oder die Mär vom Osterhasen.

Eckhard Nordhofen jedenfalls ist nicht darauf hereingefallen. Stellt er doch in seinem Nachruf (Die Zeit vom 12. April 1996) Blumenbergs erstes Hauptwerk, „Die Legitimität der Neuzeit“ (1966), umstandslos in den Kontext der bundesrepublikanischen „Studentenrebellion“. Mit dieser vermeintlich nur ideenhistorischen Rekonstruktion des abendländischen Weltbildwandels im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit habe sich Blumenberg in schärfste Opposition gesetzt zu den sich damals für Jahrzehnte zur Herrschaft über die Köpfe aufschwingenden „avantgardistisch gestimmten Emanzipationsphilosophien, die von sich glauben wollten, sie dienten dem Sinn der Geschichte“. 

Noch bevor der „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno) der Weizen gesellschaftspolitisch so voll erblühte, die Demokratie bis zur – eine Nummer kleiner fehlte im Sortiment – „Selbstbestimmung der Menschheit“ (Habermas) fortgeschritten oder zumindest bei der ersten Etappe, den bundesdeutschen Hörsälen und Oberseminaren, angekommen war, hatte Blumenberg solchen neuaufgelegten Utopien von 1789 also schon das Wasser abgegraben. Denn in der „Neuzeit“-Studie steckt bereits der eine anti-totalitäre Grundgedanke, den er in seinen nach langer Vorbereitung in rascher Folge in den 1980ern publizierten Werken „Die Genesis der kopernikanischen Welt“, „Die Lesbarkeit der Welt“, „Lebenszeit und Weltzeit“, „Arbeit am Mythos“ und „Höhlenausgänge“ entfaltete: mit den „großen Erzählungen“ ist es nix mehr. Das letzte dicke Opus dieser Serie, die „Höhlenausgänge“, erschien, bemerkenswerte Koinzidenz, 1989 pünktlich zum Mauerfall, zum Abbruch des katastrophalen kommunistischen Experiments, zum, wie sich leider herausstellen sollte, nur vermeintlichen Ende des ideologischen Zeitalters.

Den ersten bis heute nachwirkenden „Schiffbruch mit Zuschauer“ (Blumenberg), den der bisher größten aller großen europäischen Erzählungen, der christlichen, protokolliert der Eremit von Altenberge in seiner Analyse des sich im 14. Jahrhundert auflösenden „theologischen Absolutismus“. In Blumenbergs sehr umstrittener Interpretation von dessen gnostischen Gottesverständnis ist auf den sich vom Menschen zurückziehenden, verborgenen Schöpfer der Welt kein Verlaß mehr. Er ist kein fürsorgender „lieber Gott“ mehr, so daß der Mensch, sich mittels Wissenschaft und Technik zur Naturbeherrschung anschickt, um die Daseinssorge in die eigene Hand zu nehmen und sich Lebenssicherheit zu verschaffen, indem er die Welt rational ordnet. Was notwendig einging mit dem Geltungsschwund religiöser Denk- und Handlungsmuster, die sich jedoch nicht einfach sukzessive verflüchtigen. Vielmehr werde ihre theologische Substanz verweltlicht, durch Religionssurrogate und Ersatzmetaphysiken säkularisiert. So sollen, nach einem berühmten Diktum von Blumenbergs Kontrahenten Carl Schmitt, alle prägnanten Begriffe des modernen Staatsrechts säkularisierte theologische Begriffe sein. Ebenso verhalte es sich, wie Blumenberg im Anschluß an Karl Löwith expliziert, mit Vorstellungen der modernen Geschichtsphilosophie, die etwa die Heils- durch die Fortschrittsidee oder die christliche Fixierung auf die über Mensch und Welt hereinbrechende Endzeit durch die Hoffnung auf das kommunistische Paradies der Werktätigen oder das liberale Versprechen des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl ersetzen. 

Mit dem für Blumenberg, einem Angehörigen der „skeptischen Generation“ (Helmut Schelsky), nicht hintergehbaren Resultat, daß alle modernen Weltanschauungen, die anstelle der christlichen getreten sind, nur scheitern konnten, weil die von ihr ererbten maßlosen, auf das Ganze der Welt, ewiges Heil und dauerhaftes Glück zielenden Sinnerwartungen unmenschlich und darum unerfüllbar seien. Das christliche Weltbild sei zwar von innen her, durch den theologischen Absolutismus zersetzt worden, doch den Todesstoß habe es durch Kopernikus erhalten, der ihm die kosmologische Grundlage entzog, indem er die Erde aus dem Mittelpunkt des Sonnensystems an dessen Rand schob. Seitdem dürfe sich der Mensch nicht mehr als das „Schoßkind der Schöpfung“ fühlen. Vielmehr lebe er, ungeachtet seiner Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbehauptung, in der Grundstimmung seiner „kosmischen Nichtigkeit“ und mangelnder Systemrelevanz, je präziser Kopernikus’ Nachfahren das Universum mit seinen 100 Milliarden Galaxien vermessen.

Sämtliche Versuche zur allumfassenden sinnstiftendenWiederverzauberung der Welt, wie sie sich gegenwärtig ausagieren im altlinken Illusionismus, der das „unvollendete Projekt der Moderne“ (Habermas“) irgendwie doch zum Abschluß bringen möchte, in postnationalen Träumen von Vielfalt und Buntheit nach dem „Großen Austausch“, in aberwitzigen grünen Weltrettungsphantasien, in der neoliberalen One-World-Ideologie des Finanzkapitals oder in der steinzeitlichen „totalitären Herausforderung“ (Ernst Nolte) des Pan-Islamismus, wären für Blumenberg von lächerlichster Aussichtslosigkeit. Was bleibt? Radikale Absenkung der Sinnerwartungen und „Festhalten an erfahrungsbewährten Lebensformen, die kraft generationenüberdauernder Geltung schließlich den Status kultureller Selbstverständlichkeiten gewinnen“ (Hermann Lübbe).