© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Nun sind die Unruhen halt da
Gewaltanwendung ohne Theorie: Über die Zustände des „molekularen Bürgerkriegs“ ist Deutschland längst hinaus
Felix Dirsch

Die Länder Europas erlebten wie Nordamerika und Japan nach 1945 eine lange Periode von Frieden und Wohlstand. Konzepte vom Weltbürgerkrieg und vom „europäischen Bürgerkrieg“ (Ernst Nolte) erschienen wie Erzählungen aus einer längst vergangenen Zeit. Nicht nur die ökonomische Stabilität machte es vermeintlich plausibel, daß über alle Arten von Konflikten eine Fülle von Theorien vorgelegt wurde, nur nicht über Bürgerkriege, immerhin die „am weitesten verbreitete, charakteristische Form organisierter Gewaltanwendung durch den Menschen“, so der britische Historiker David Armitage.

Hans Magnus Enzensberger veröffentlichte 1993 Gedanken über „Aussichten auf den Bürgerkrieg“. Das bundesrepublikanische Establishment träumte wenige Jahre nach dem Ende des Ostblocks noch von der hegelianisch beeinflußten Wunschvorstellung vom „Ende der Geschichte“ – und das, obwohl der Krieg in Ex-Jugoslawien bereits beängstigende Züge angenommen hatte. Am Rande ging Enzensberger auf die Unruhen von Los Angeles ein. Sie hatten sich an den Freisprüchen von Polizisten entzündet, die sich wohl Gewalt an Farbigen hatten zuschulden kommen lassen. Der Autor differenziert die Revolte stärker als üblich, verortet er doch Plünderungen und Gewaltanwendung vor allem innerhalb der schwarzen Community. Der Gegensatz zwischen Schwarzen und Weißen spielt seiner Meinung nach eine im Vergleich dazu untergeordnete Rolle.

Stuttgart ist nur als Spitze des Eisbergs zu bewerten

Aus heutiger Sicht wirken Enzensbergers Anmerkungen zum Bürgerkrieg ein wenig zeitentrückt. Die Asylproblematik spielt bei ihm kaum eine Rolle. Jedoch gab es schon damals erhebliche Probleme mit größtenteils illegal ins Land gekommenen Migranten. 

Über 25 Jahre später hat sich die Situation nicht nur in Deutschland stark zugespitzt. Im Nachbarland Frankreich blickt man gebannt auf die Straßenschlachten, die sich tschetschenische mit nordafrikanischen Banden in Dijon (und nicht nur dort!) liefern. Im verrufenen Stadtteil Duisburg-Marxloh übernehmen arabische Clans halboffiziell die Herrschaft. Immer mehr Straßenzüge werden zu No-go-Areas. Die Zahl solcher Gegenden hat sich in Deutschland in den zurückliegenden  Jahren stark erhöht. So sind die jüngsten Ausbrüche von Unruhen in Stuttgart nur als Spitze des Eisbergs zu bewerten. Von der Kölner Silvesternacht 2015/16 bis zu den Krawallen in der Landeshauptstand Baden-Württembergs kann man einen Bogen staatlichen Kontroll- und Steuerungsverlusts schlagen.

Es wäre wohl juristische Rabulistik, die Anwendbarkeit des Bürgerkriegsbegriffs auf die erwähnten Vorfälle zu bezweifeln. Sicherlich ist ein großer Teil des kriminellen Mobs in staatsrechtlicher Hinsicht nicht als „Bürger“ zu bezeichnen. Im Bewußtsein des medialen und politischen Establishments sind aber alle Menschen, die hier leben, faktisch und juristisch gleich zu bewerten. Auch Gerichtsurteile ignorieren zum Teil schon seit Jahrzehnten die gemäß Grundgesetz und Staatslehre bestehenden Differenzen zwischen sogenannten Deutschen- und Jedermannsrechten. Demnach ist beispielsweise das Versammlungsrecht nach Artikel 8 Grundgesetz ein Deutschenrecht. Der Zugriff auf die sozialen Füllhörner wird zumeist mit Berufung auf die jedem Erdenbürger zustehende Menschenwürde gewährt.

CIA warnte bereits 2009 vor massiven Konflikten

Wenn man die Intensität solcher innerstaatlichen Auseinandersetzungen betrachtet, so ist es irrelevant, daß ein klar faßbarer Gegner fehlt und man keinen mit Aplomb hingeworfenen Fehdehandschuh findet. Der Stuttgarter Polizeivizepräsident Thomas Berger sprach in einer ersten Stellungnahme zu den Vorfällen von einem „bunten Mix um den Globus“. Besser war wohl die Herkunft eines Teils der Randalierer kaum zu beschreiben. 

„Im molekularen Stadium ist der Bürgerkrieg als solcher kaum wahrnehmbar.“ So notierte 2010 der Publizist und JF-Autor Thorsten Hinz in seinem nach zehn Jahren deutlich aktuelleren Essay „Zurüstung zum Bürgerkrieg“. Diese Etappe ist längst vorüber. Es tangiert den innerstaatlichen Rechtsfrieden erheblich, wenn sich nicht primär latente Straftäter aus vormodernen Einwanderungskulturen medial unter Aufsicht gestellt sehen, sondern hauptsächlich Polizisten, wie die omnipräsenten Debatten um angeblich pauschal rassismusanfällige Ordnungshüter belegen.

Die Nebel sind langsam gewichen, wenngleich mancher Frontverlauf noch unklar ist. 2009 versuchte der mittlerweile verstorbene Publizist und Erfolgsautor Udo Ulfkotte in der Schrift „Vorsicht Bürgerkrieg“ seine Thesen mit Rekurs auf einen brisanten CIA-Bericht zu untermauern. Der frühere Chef von NSA und CIA, Michael Hayden, soll angeblich davor gewarnt haben, daß Deutschland im Jahre 2020 von massiven Konflikten heimgesucht werden, ja sogar der Staatszerfall bevorstehen könnte. 

Eine derartige Aussage wäre als eine im nachhinein in die richtige Richtung gehende Ahnung einzustufen. So präzise jedoch wollen US-Spitzenbeamte üblicherweise nicht sein. Liest man Haydens einschlägige, 2008 an der Kansas State University gehaltene Rede auf der Netzseite der CIA nach, so thematisierte sie nur allgemein Integrationsprobleme, die durch Migration in Europa entstehen könnten. Die unmittelbaren Erfahrungen der letzten Jahre dürften in Zukunft solche zweifelhaften Bezugnahmen überflüssig machen.

Der aktuelle Bürgerkrieg bestätigt nur die Erfahrung: Die Gegner wissen um dessen Existenz – lange bevor er offiziell so benannt wird.