© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Eine Faszination für den Ernstfall
Wer ist rechts? Für Archiker ist das Wesen der Herrschaft kalkulierte Machtausübung / Teil IV der JF-Serie
Karlheinz Weißmann

Es gibt linke Filme und rechte Filme, genauer: Filme, die etwas für Linke sind, und Filme, die etwas für Rechte sind. Zur ersten Kategorie gehören „Panzerkreuzer Potemkin“ (Regie: Sergej Eisenstein; Sowjetunion, 1925) und „1900“ (Regie: Bernardo Bertolucci; Italien, 1976), zur zweiten „Die Nibelungen“ (Regie: Fritz Lang; Deutschland, 1924) und „Zwölf Uhr mittags“ (Fred Zinnemann; USA, 1952).

Bei „Zwölf Uhr mittags“ handelt es sich um einen Western, noch in Schwarz-Weiß gedreht. Die Handlung ist rasch skizziert: Es geht um Marshal Will Kane (Gary Cooper), der davon erfährt, daß eine Bande Gesetzloser in seine Stadt kommen wird, um Rache zu nehmen, weil er sie vor Jahren zur Strecke brachte; allerdings ist ihr Eintreffen erst für den Tag angekündigt, an dem sein Dienst endet; Kanes Ehefrau (Grace Kelly), eine religiöse Pazifistin, beschwört ihn, zu fliehen. Obwohl sie droht, ihn anderenfalls zu verlassen, entschließt sich der Marshal aus Pflichtgefühl zum Bleiben; und das, obwohl ihn niemand im Kampf gegen die Verbrecher unterstützen will. Der Richter bringt sich wie die Mehrzahl der Männer lieber in Sicherheit, der Geistliche salbadert, daß Gewalt immer Unrecht sei. Zuletzt steht Kane allein, oder doch nicht ganz, da seine Frau ihm in letzter Minute zu Hilfe kommt. In einem Shoot-out tötet er den Kopf der Bande; die Bürger der Stadt sammeln sich, um den Sieger zu feiern, aber Kane nimmt den Stern ab und wirft ihn vor ihre Füße.

Was in „Zwölf Uhr mittags“ geschildert wird, ist für den Rechten eine typische Situation: Die meisten sind nicht willens einzusehen, wann die Ordnung gefährdet ist. Die Vorzeichen ignorieren sie oder suchen nach Ausflüchten, um sie übersehen zu dürfen. Ihr Egoismus, ihr Ruhebedürfnis und ihre Feigheit sind übermächtig. Weshalb es fallweise entschlossener Einzelner bedarf, die das Notwendige tun, das heißt auch Gewalt anwenden, falls es geboten ist.

Es bedarf Einzelner, die das Notwendige tun

Gustav Noske, jener Reichswehrminister, der 1918/19 die ersten Freiwilligenverbände aufstellte, um den kommunistischen Umsturz zu verhindern, sprach davon, daß in der Krise einer „den Bluthund machen“ müsse. Oft ist Undank sein Lohn, aber manchmal wird der „Bluthund“ auch in das Pantheon der Helden aufgenommen. Das galt für Roms Diktator Lucius Quinctius Cincinnatus wie für den „blauen Cincinnatus“ George Washington, es galt für Lazare Carnot, den Organisator der levée en masse während der Französischen Revolution, wie für Bismarck in der Phase der Reichseinigung oder für Winston Churchill während des Zweiten Weltkriegs.

Das galt nicht für Hindenburg, von dem viele am Beginn der 1930er Jahre hofften, daß er der Retter der Republik sei. Er war es nicht, weil ihn sein Legalismus dazu brachte, Hitler zum Kanzler zu ernennen, anstatt die Exekutive an sich zu ziehen, einen Staatsstreich durchzuführen und die Verfassung außer Kraft zu setzen.

Der Konservative Winfried Martini meinte, daß dem Konservativen Hindenburg das „Format“ des Sozialdemokraten Friedrich Ebert fehlte, der als Reichspräsident erklärt hatte: „Wenn der Tag kommt, an dem die Frage auftaucht: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrunde gehen lassen.“ Martini gehörte ohne Zweifel zu den Archikern, deren Bezeichnung vom griechischen arche für „Ursprung“ oder „Herrschaft“ abgeleitet wird. Man könnte sagen, daß es sich um jene Denkfamilie der Rechten handelt, die nie vergißt, daß das Wesen der Herrschaft kalkulierte Machtausübung ist, und daß Herrschaft gelegentlich auf ihren „Ursprung“ zurückgeführt werden muß, die – in der Regel gewaltsame – Neu- oder Wiedergründung von Machtverhältnissen.

Diesen Tatbestand auch nur zu erwähnen, ist heute inopportun. Denn zum geltenden „Narrativ“ gehört, daß ein Staat auf ewigen universalen Werten und einem „Gesellschaftsvertrag“ beruht, der durch den herrschaftsfreien Diskurs und Aushandeln der Formen des Zusammenlebens ständig erneuert wird. Was auf diesem Weg schwer zu richten ist, erledigt eine aufgeklärte Elite mit Hilfe von soft power und Umverteilung.

Macht und Gewalt wären jedenfalls besser nicht in der Welt und müssen überwunden werden. Deshalb verschwinden selbstverständlich weder Macht noch Gewalt, und nur unter den komfortablen Bedingungen der letzten Jahrzehnte konnte man sich einreden, daß ein Idyll ohne Hierarchie, ohne Zwangsverhältnisse und mithin ohne Geschichte möglich werde. Wer das bestritt oder vor den fatalen Folgen solcher Träumereien warnte, sah sich rasch mit dem Vorwurf konfrontiert, daß er allein durch sein Beharren auf der Geltung unwandelbarer Gesetzmäßigkeiten des Politischen das Erreichen Utopias verhindere.

Zu diesen unwandelbaren Gesetzmäßigkeiten gehört nach Carl Schmitt die Unterscheidung von Freund und Feind. Wobei die nichts mit moralischen oder religiösen oder ästhetischen oder ökonomischen Kategorien zu tun hat, sondern abhängt von der Intensität einer Konfliktlage, in der bestimmt werden muß, wer als Freund, wer als Feind zu betrachten ist. Der äußerste Grad der Intensität wird im „Ernstfall“ erreicht, und was den Archiker immer vom Liberalen scheidet, ist des Liberalen „Abscheu vor dem Ernstfall“ (Günter Maschke). Umgekehrt darf man dem Archiker eine gewisse Faszination durch den Ernstfall unterstellen, ein gesteigertes Lebensgefühl, wenn seine Befürchtungen sich bewahrheiten, die etablierten Kräfte versagen, die üblichen Maßnahmen ohne Wirkung bleiben.

Systemrelevante Beamte, Polizisten und Soldaten, vor allem in Eliteverbänden, müssen ihrem Wesen nach Archiker sein. Nur so können sie ihren Auftrag erfüllen, der sich kaum darin erschöpft, den glimpflichen Abgang anzunehmen, Abstraktionen und Diversität zu verteidigen. Ihre jetzt immer wieder skandalisierte Neigung „nach rechts“ ist naturgegeben, und sie verstärkt sich in dem Maß, in dem sie ohne Rückendeckung bleiben, in ihrer Ehre herabgesetzt werden, beobachten, daß sich anarchoide Vorstellungen in den tonangebenden Kreisen durchsetzen, das Gewaltmonopol schwindet und die Politische Klasse entweder unwillens oder unfähig ist, die elementaren Staatsaufgaben – Verteidigung der Grenzen, Schutz der Bürger und ihres Eigentums – wahrzunehmen.

Dagegen nimmt die Bevölkerung nur in verzweifelter Lage ihre Zuflucht zu verzweifelten Mitteln. Aber selbst ein Vertreter des Establishments meinte unlängst: „Wenn das Gefühl um sich greift, der Staat könne oder wolle nicht mehr für Recht und Ordnung sorgen, dann wird der Ruf nach Parteien und Politikern lauter werden, die versprechen, mit harter Hand durchzugreifen. Und auch die werden dann nicht aus dem Nichts gekommen sein.“ (Berthold Kohler)

Aus der Parallelgesellschaft, erwächst ein Parallelstaat

Daß eine solche Entwicklung überhaupt denkbar erscheint, hat vor allem mit der Fragmentierung der Gesellschaft und der Zerstörung des entscheidenden Zusammenhangs zwischen Ordnung und Ganzheit des Gemeinwesens zu tun. Der Prozeß ist durch die unkontrollierte Masseneinwanderung während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ nur offenkundig geworden, aber seit Jahrzehnten im Gang und hat bereits zu fatalen Folgen geführt, von denen mehr oder weniger alle Staaten Westeuropas betroffen sind.

Das zeigt sich exemplarisch an den dramatischen Vorgängen in Frankreich, die schon Züge eines „Vorbürgerkriegs“ (Eric Werner) annehmen. Dabei fällt das aggressive Demonstrationsverhalten aller möglichen Gruppierungen kaum noch ins Gewicht. Entscheidend ist vielmehr, daß selbst die zuständigen Stellen einräumen, die Kontrolle über ganze Stadtteile an islamische Fundamentalisten verloren zu haben, die ihre Einflußzonen systematisch ausbauen. Ein Vorgang, der manchmal parallel zur Machtübernahme krimineller Clans verläuft, die wiederum in der Lage sind, jederzeit den Mob gegen die Polizei zu mobilisieren und die Banlieues „in Brand“ zu stecken. Sie haben nicht nur eine Parallelgesellschaft, sondern einen Parallelstaat geschaffen, können eigene „Truppen“ organisieren, mobilisieren und bewaffnen, um gegen die Konkurrenz in den Kampf zu ziehen. Die Notwendigkeit, im Juni die Armee einzusetzen, um die Auseinandersetzungen zwischen algerischen und tschetschenischen Kriminellen in Dijon zu beenden, hat dazu beigetragen, das Bild des Landes weiter zu verdüstern.

Eine Folge ist, daß viele Franzosen sogar die Hoffnung auf die Fundamentalopposition – weniger von links, eher von rechts – aufgeben und Abhilfe in anderer Richtung suchen. Bei einer unlängst durchgeführten demoskopischen Erhebung äußerten 49 Prozent der Befragten, daß sie es vorziehen würden, wenn man die vollziehende Gewalt für einige Zeit in die Hand eines Einzelnen legte. Offenbar funktioniert das Kollektivgedächtnis noch. Die Franzosen erinnern sich des „demokratischen“ oder „Staatsstreichs auf Velours“, mit dem de Gaulle die Fünfte Republik gegründet hat. Allerdings wußte er, daß solche Maßnahmen Aushilfen sind und auf Notzeiten beschränkt werden müssen. Als er sich 1946 das erste Mal von der Macht zurückzog, sagte er im vertrauten Kreis: „Was diesem Land fehlt, ist ein König.“

Die nächste Folge der Serie „Wer ist rechts?“ erscheint in der JF-Ausgabe 32/20 am 31. Juli.