© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Der Fluch der Schuld
„Staatskunst der Selbstzerstörung“: Hans-Jürgen Syberberg und der Literaturstreit 1990
Thorsten Hinz

Trotz einigen Scharf- und gelegentlich sogar Tiefsinns arbeitete der deutsch-deutsche Literaturstreit 1990/91 sich an Oberflächenphänomenen ab. Das verdeutlicht ein Vergleich mit Hans-Jürgen Syberbergs Streitschrift „Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege“, die parallel im Sommer 1990 erschien. Der im Ausland für „Hitler, ein Film aus Deutschland“, den „Ludwig“- und den „Winifred Wagner“-Film hoch geschätzte Regisseur galt in Deutschland längst als Außenseiter. Ihm wiederum galt die Bundesrepublik ausweislich seiner in den siebziger und achtziger Jahren erschienenen Bücher als das „Totenland einer freudlosen Gesellschaft“, dominiert von „demokratischen Pharisäern“, „fortschrittlichen Kultukonformisten und Mitläufern aller Vernunftsideologien“, „am Abgrund der geistigen Abstinenz“. Der Mauerfall schien ihm die Chance einer Katharsis zu eröffnen.

Der innerdeutsche Konflikt zwischen Ost und West interessierte ihn nicht, er verwarf beide. Die deutsche Nachkriegskunst nannte er den Kult des Häßlichen und Gemeinen; sie sei eine „Staatskunst der Selbstzerstörung“ und ein „gekaufter Widerstand“, der mit der Macht kollaboriere. „Ein Protest aber, der nicht ängstigt, und zwar in Gefahr vor den Mächten der Zeit, ist keiner.“ Nun aber sei eine „Kunst möglich ohne Zerstörungspathologien aus einer verlorenen Identität. Kunst wäre möglich aus jener inneren Authentizität, der wiedergefundenen, einer Befreiung des Volkes selbst, dem ausgebrannten, von innen leuchtend.“

Kritiker warfen Syberberg Antisemitismus vor

Syberberg formulierte drei zentrale Themen, die darauf warteten, von der Kunst endlich aufgegriffen zu werden: Erstens den Zusammenbruch des Deutschen Reiches und die Auslöschung Preußens als eines Kulturstaates samt der brutalen Begleiterscheinungen und der zur Befreiung stilisierten Umerziehung. Zweitens Auschwitz und den Exodus der Juden aus Deutschland und Europa. Drittens die Vertreibung aus dem deutschen Osten. Davon versprach er sich eine allgemeine Katharsis, welche die Realisierung eigener Leiden und Verluste ausdrücklich einschloß. Damit bekannte er sich zur gesellschaftlichen Funktion der Kunst in Deutschland – einer Kunst, die nicht mehr Hollywood die Deutung der eigenen Geschichte überließ.

Jedoch wurde seine Schrift zum Rohrkrepierer. Das hatte – in geringerem Maße – formale Gründe: seine Neigung zu pathetischen Satzkaskaden, zur eigenwilligen Syntax, zu Redundanz und sprunghaften Assoziationen. Vor allem aber löste dieser Satz harsche Reaktionen aus: „Was auch die Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege jagte, war der Fluch der Schuld, die sich als Werkzeug der Einschüchterung von links anbot, da sich die Linken als schuldfrei verstanden und weil Hitler die Juden verfolgt hatte, nun in unseliger Allianz einer jüdisch linken Ästhetik gegen die Schuldigen bis zu Langeweile und alles kulturelle Leben lähmende Lügen, so daß die Schuld zum phantasietötenden Geschäft werden konnte (…).“

Ein kluges Lektorat hätte diese Suada verhindert. Vorhersehbar öffnete sie das Tor zum tödlichen Vorwurf des Antisemitismus. Der aus einem NS-affinen Elternhaus stammende ehemalige Napola-Schüler Hellmuth Karasek nannte Syberberg im Spiegel einen „ewigen Hitler-Jungen, der sich idealistisch einen netten, sauberen Faschismus wünscht“ und „eine jüdisch linke Weltverschwörung konstruiert“. In der FAZ zürnte Werner Fuld über den „Frontalangriff gegen Demokratie und Kunst“ und befand: „Wo über Kultur gesprochen wird, hat Syberberg nichts mehr zu suchen.“ Auf derselben Seite nannte Frank Schirrmacher die Schrift ein „Ärgernis“.

Dem stand freilich entgegen, daß Syberberg den Judenmord ausdrücklich als ein notwendiges Thema hervorgehoben hatte. Nur verwahrte er sich dagegen, daß „die europäische Kultur der Schönheit nach Auschwitz“ geführt hätte mit der Konsequenz, daß heute „die Rache nun Kunst als Geschäft (ist) des häßlichen und höhnenden Krüppels“. Die Urheber verortete er in der aus den USA reimportierten Frankfurter Schule: „Die Ästhetik von Adorno bis Bloch und Benjamin, Marcuse und Kracauer bestimmte im Erbe des deutschen Idealismus das kulturelle Leben nach 1945 in Deutschland. Sie wurden zu den geistigen, von Hitler unbefleckten Gründungsvätern der Nachkriegsgeschichte Deutschlands.“

Ein Befund, der sich schon in Caspar von Schrenck-Notzings Klassiker „Charakterwäsche“ findet und vom Sammelband „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, 1999 herausgegeben von Clemens Albrecht, voll bestätigt wurde. Das ergab im übrigen eine hübsche Analogie zur DDR, die zu benennen die Akteure des Literaturstreits sich jedoch scheuten.

Der Vorwurf Schirrmachers an Christa Wolf, die politischen Verhältnisse in der DDR als familiäre Binnenstruktur banalisiert zu haben (JF 28/20), fiel auf seine Kritik an der westdeutschen Literatur zurück, die er als Ergebnis einer Familienaufstellung erzählte: Eine nachgewachsene Generation, „(zu) jung, um schuldig geworden zu sein, alt genug, um das Ausmaß der Katastrophe begriffen zu haben“, habe die Gelegenheit genutzt, um mit der „Moral der Naiven und Unschuldigen“ an Krieg und Holocaust zu erinnern und „ein von den Katastrophen geläutertes Ich“ zu konstruieren. Ihre Erzählungen entsprangen der Kindheitsperspektive, so daß die NS-Zeit zum märchenhaften, „in mythischen Vorzeiten angesiedelter und aus aller Geschichte herausgefallener“ Abschnitt und zum Sperrriegel gegen die fernere Vergangenheit wurde.

Gefördert wurde die intellektuelle Linke

Das war alles richtig, aber unvollständig. Schirrmacher hob „das bundesdeutsche Literaturwunder“ von 1959 hervor, als die Roman-Klassiker erschienen: Bölls „Billard um halbzehn“, Grass’ „Blechtrommel“, Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“, Walsers „Ehen in Philippsburg“, vermied aber zu erwähnen, daß im selben Jahr Adorno den Aufsatz „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ publizierte. Adorno wandte sich gegen den Begriff „Schuldkomplex“, denn die deutsche Schuld sei real und keine fixe Idee. Die Gefahr des Rückfalls in den Faschismus war für ihn allgegenwärtig. „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursache fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“ Damit waren auch der Literatur als dauerhafte Aufgaben die Trauerarbeit und die Ursachenbekämpfung historischer Schuld zugewiesen. Eine derartige, im Kulturbetrieb institutionalisierte Kunst mußte in der Tat auf eine „Staatskunst der Selbstzerstörung“ (Syberberg) hinauslaufen. 

Wenn Karl Heinz Bohrer die Begriffsstutzigkeit der bundesdeutschen Eliten kritisierte, weil sie verdrängten, daß ihre Verantwortung für die DDR „vergleichbar mit der ehemaligen Verantwortung der Alliierten für das geschlagene Nazi-Deutschland“ sei, bezog er sich auf das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik, die praktisch auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt war und sich gleichzeitig für das ganze Deutschland verantwortlich fühlen sollte. Was bedeutete, das wiedervereinte und souveräne Deutschland symbolisch, geistig und konzeptionell vorwegzunehmen. Doch soviel innere Souveränität konnte die Bundesrepublik schlichtweg nicht aufbringen. 

Die äußeren und administrativen Voraussetzungen der DDR waren leicht zu benennen: die sowjetische Besatzung, die SED-Diktatur, die Mauer, die Stasi. Doch auch die Bundesrepublik war als Mündel ihrer Vormächte – insbesondere der USA – ins Leben getreten. Ein Erwachsenwerden war ihr nur möglich, wenn sie diese Voraussetzung und das Machtspiel, das ihr zugrunde lag, durchschaute und als Herausforderung begriff. Statt dessen, so Syberberg, habe „der Deutsche“ sich die Karikatur, die in den internationalen Kriegsfilmen von ihm gezeichnet wurde, zu eigen gemacht: „Er ist auch wirklich häßlich und wirklich laut und wirklich primanerhaft, artig, strebend und wirklich demokratisch wie aus dem Bilderbuch seiner Lehrer.“ Was im Literaturstreit als Gesinnungsästhetik, Infantilität, Provinzialismus oder verführtes Denken verdammt wurde, waren Symptome der Subalternität vor dem nach 1945 implementierten Über-Ich.

Schon lange vor Frances Stonor Saunders’ 1999 erschienenem Buch „Wer die Zeche zahlt ...“ war bekannt, daß nach dem Zweiten Weltkrieg aus den USA große Summen in die Kultur- und Intellektuellenszenen Westeuropas transferiert wurden. Tim B. Müller hat in seiner tiefschürfenden Untersuchung „Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg“ (2010) dargelegt, daß nicht Konservative oder Rechte, sondern die nichtkommunistische, intellektuelle Linke gefördert wurde, weil sie den sozialen Bedürfnissen der Zeit entsprach und daher besser geeignet war, den kommunistischen Einfluß abzuwehren. Aufgrund der gebrochenen nationalen Identität hatte die Intervention in Deutschland eine besonders gravierende Wirkung.

Syberberg schrieb 1990: „Es wäre grotesk, auf die bisherige Kolonisation und Ideologisierung unserer Geistesverfassung einen Patriotismus gründen zu wollen (…).“ Genau das haben die konservativen Frondeure aber versucht. Ihr Scheitern war folgerichtig. Im Verlauf und Ergebnis des unterm Strich erfolglosen Literaturstreits ist es modellhaft abgebildet.