© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Deutsche Selbstbehauptung gegen polnische Aggression
Vor 100 Jahren fand die Volksabstimmung im Ermland und in Masuren statt
Oliver Busch

Eines ihrer ehrgeizigsten Ziele zu erreichen, die sofortige Okkupation Masurens und des südlichen Ermlands, blieb den am Katzentisch der Versailler Konferenz finassierenden Emissären Polens versagt. Statt dessen setzte Artikel 94 des Friedenstraktats vom 28. Juni 1919 für den Regierungsbezirk Allenstein eine im Sommer 1920 abzuhaltende Volksabstimmung fest. Vom katholischen Ermland wurden nur die südlichen Kreise Allenstein und Rössel, von Masuren nur die südwestlichen Kreise Osterode, Ortelsburg, Sensburg, Johannesburg, Lyck, Oletzko sowie der nach der Abtrennung Soldaus der deutschen Provinz Ostpreußen verbliebene nordöstliche Teil des Kreises Neidenburg zum Abstimmungsgebiet erklärt.  

Daß Ermland und Masuren überhaupt Verhandlungsgegenstand wurden, war polnischen Suggestionen geschuldet, die den Entente-Politikern eine autochthone polnische Mehrheit vorgaukelten, die nach der „Heimkehr“  in die im November 1918 neuerstandene Republik Polen lechzte. Wie bezüglich Westpreußens und Oberschlesiens tricksten die Warschauer Lobbyisten mit gefälschten Statistiken und Karten, um vor allem Woodrow Wilsons ahnungslose US-Delegation über die Zusammensetzung der Bevölkerung auch im südlichen Ostpreußen zu täuschen.

Illusionen in Warschau über das Polentum in Masuren 

Wie die tatsächlichen „völkischen Verhältnisse“ dort 1919 aussahen, hat der Königsberger Geograph Leo Wittschell anhand der Sprachenstatistiken von 1910 akribisch aufgezeigt. Demnach sprachen 52 Prozent Deutsch als Muttersprache, 36,6 Masurisch (eine Art polnischer Dialekt) und nur 7,7 Polnisch. 3,6 Prozent der 582.000 Einwohner galten 1910 als „zweisprachig oder anderssprachig“. Sollte die kühne polnische Spekulation auf einen Abstimmungssieg aufgehen, mußten masurische Muttersprachler geschlossen für Polen stimmen. Was wiederum voraussetzte, daß sie sich als eingefleischte Polen fühlten, die nicht anders könnten, als ethnisch determiniert ihre „Wahl“ zu treffen. Wie Roland Gehrke in seiner Studie über den polnischen „Westgedanken“ (2001) betont, gehörte dieser Glaube an die vererbliche Nationalität im Wortsinn zur DNS des imperialistischen polnischen Chauvinismus.   

Demgegenüber kalkulierte die deutsche Seite nicht mit der ohnehin fragwürdigen polnischen Abstammung der Masuren, sondern setzte auf ihre kulturelle Prägung. Nationalität habe nichts mit Rasse zu tun, Nationen seien „nichts Gegebenes, sondern sie entwickeln sich“, führte Max Worgitzki, Vorsitzender des den Abstimmungskampf dirigierenden  Bundes Masuren-Ermland, im Anschluß an Ernest Renan und im Vorgriff auf moderne Nationalismustheorien aus. Nationalität lasse sich mithin nicht „nach äußeren, den Rassemerkmalen ähnlichen Kennzeichen feststellen“. Sie sei „ein geistiger Begriff, der Ausdruck einer Willensrichtung“. Weder die „Einheit der leiblichen Abstammung“ noch die Sprache entscheiden daher über nationale Zugehörigkeit, pflichtete ihm Wittschell bei, sondern „Bewußtsein, Gesinnung, Seele“. Die rassenideologisch verblendete, auf die Übermacht „natürlicher“ Faktoren fixierte „polnische Intelligenz“ verkannte daher, in welchem Umfang sich die protestantischen Masuren im Laufe des 19. Jahrhunderts dank Schule, Kirche, Militär assimiliert und in die preußisch-deutsche Kultur integriert hatten. 

Ein Umstand, aus dem die deutschen Organisatoren der Abstimmungsschlacht jedoch keine Erfolgsgarantie ableiteten, da eine „gefühlte“ deutsche Identität nicht gleichbedeutend war mit bewußter deutscher Haltung. Wilhelm von Gayl, im Januar 1920 zum Reichs- und Staatskommissar für das Allensteiner Abstimmungsgebiet ernannt, fürchtete deswegen die „nationale Gleichgültigkeit“ der Bevölkerung. Deren materielle Not habe bei vielen die „Teilnahme am großen Schicksal der Nation überwuchert“, die „schrankenlose Selbstsucht das nationale Gewissen erstickt“. Wegen dieses ihn schockierenden Mangels an Wir-Bewußtsein, so vermutete der spätere Reichsminister des Innern, seien die Ostpreußen im Südwesten der Provinz „auf dem besten Wege zu verlumpen“ und bereit, sich sogar an das ihnen in Versailles „zugedachte Sklavendasein“ unter polnischer Herrschaft zu gewöhnen. 

Im Gegensatz zu der von Gayl als materialistisch und egoistisch klassifizierten Masse, erlaubten es die vom „Kampf ums Dasein“ eher entlasteten Angehörigen der regionalen Elite, ihr „enges Selbst“ zu transzendieren, um „das ungeheure Ganze“, Staat und Nation, zur „Hauptangelegenheit jeder Person zu machen“ (Novalis). Von dieser Schicht ging daher die Initiative aus, die „national zweifelhaften Deutschen“ auf ein ähnliches Niveau des Wir-Bewußtseins zu heben, damit das Abstimmungsgebiet nicht an Polen fiele.   

Die jüngere Forschung nimmt die alle massenmediale Register ziehende Vorbereitung der Abstimmung als „Nationalisierung“ der lokalen Bevölkerung wahr und wertet sie als „Schlüsselerlebnis“ für deren nachmalige nationalsozialistische Radikalisierung, die der NSDAP im südlichen Ostpreußen schon vor 1933 konstant die reichsweit höchsten Wahlergebnisse bescherte. 

Das ist ein demagogischer Trugschluß, der Geschichte mit Moral verwechselt, die da lautet: Hütet euch vor dem Nationalismus, er ist die Vorstufe des Radikalfaschismus und damit der Aufbruch zu Menschheitsverbrechen. Solche schimärische Evidenz schafft, wer emsig enthistorisiert. Der a priori ethisch verwerfliche Nationalismus, der vermeintlich gesetzmäßig in den Nationalsozialismus mündet, tritt etwa bei Andreas Kossert und Robert Traba, zwei Protagonisten dezidiert postnationaler Umdeutung ostpreußischer Geschichte, konsequent als Deus ex machina auf, isoliert von konkreten Umständen der Konfrontation im Grenzland. 

Daher hat der deutsche Nationalismus bei ihnen seinen Ursprung nicht in Interaktionen mit dem polnischen. Vielmehr ist Polen als historischer Akteur gar nicht mehr existent. Sondern figuriert allein als antipolnisches „Negativstereotyp“ der Deutschen, deren Funktionären, den Trägern masurisch- ermländischer Selbstbehauptung, man eine kollektive Pseudologia phantastica attestiert. Sie hätten sich also völlig grundlos in eine Polen-Gegnerschaft hineingesteigert.  

So läßt sich Nationalismus zum Massenwahn umtaufen, sofern sein reaktiver, defensiver Charakter unterschlagen wird. Was in vielen neueren Darstellungen deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte, nicht nur bei Kossert und Traba, die Regel ist. Denn die simple Tatsache bleibt stets unerwähnt, daß ein starker polnischer Nationalismus in Masuren, im Ermland, in Danzig und Westpreußen, in Schlesien wie in der westlichen Ukraine und im Wilna-Gebiet seit 1918 weder völkerrechtlich, noch historisch, noch ethnisch gerechtfertigte Ansprüche auf mehrheitlich von nichtpolnischen Völkern besiedelte Territorien erhob. 

Auch die Abstimmungskämpfe in den preußisch-deutschen Ostprovinzen dürfen mit dieser Schablone keinesfalls als das erscheinen, was sie waren: als legitimer Widerstand gegen den Zugriff von Landräubern, die mit Rückendeckung der Versailler Sieger zu realisieren hofften, was die Ideologen der „aggressiven  Nationaldemokraten“ (Gehrke) seit Ende des 19. Jahrhunderts propagierten: die Wiedergeburt eines Staates in den von der Oder bis tief in die Ukraine reichenden Grenzen des frühneuzeitlichen Polens. 

In Ostpreußen führte dies, nachdem schon 1919 die im Warschauer Außenministerium koordinierte und fürstlich subventionierte Kampagne zur „Befreiung Ermlands und Masurens“ angelaufen war, zu dem, wie von Gayl rückblickend urteilte, seit 1905 forcierten, damals bereits auf eine hoch- und landesverräterische „Irredenta“ zustrebenden, in Versailles fortgesetzten „ungeheuerlichen Versuch, eine seit Jahrhunderten vollzogene Entwicklung in wenigen Monaten rückgängig machen zu wollen“.

Entsprechend der Logik ihres medizinische Begrifflichkeiten („Wahn“) bemühenden Konstrukts eines deutschen Nationalismus, müssen heutige Geschichtsklitterer der älteren Forschung à la Walther Hubatsch – zu schweigen von den vor 1945 entstandenen soliden Studien Wittschells oder den Erinnerungen von Zeitzeugen wie von Gayl – das Recht bestreiten, korrekt von polnischer „Aggression“ und deutscher „Abwehr“ zu sprechen. Nicht die in flagranter Weise das Selbstbestimmungsrecht von Ostdeutschen negierende, im Versailler Diktat ins Völkerrecht transferierte polnische Hybris, sondern das von „nationalistischen Kräften verspritzte chauvinistische Gift“ des „unversöhnlichen deutschen Antipolonismus“ (Kossert) erweist sich dann in hermetisch gegen historische Realitäten abgedichteten Argumentationen wie denen Kosserts als „Hauptfaktor der dauerhaften Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses“!

Fortsetzung des Krieges mit diplomatischen Mitteln

Der ermländisch-masurische Abstimmungskampf eröffnet erst jenseits solcher primitiven Reduktionen den Zugang zu handlungsleitenden Vorstellungen der Akteure. Deren „Schlüsselerlebnis“ bestand nicht im „irrationalen Antipolonismus“. Noch zeugt das Engagement ostpreußischer Führungsschichten in den Massenprotesten gegen den Versailler Vertrag von allgemeiner, den „Revanchismus“ in der Provinz züchtender „Grenz-Paranoia“. Vielmehr resultierte aus dem Engagement eine tiefgreifende, die politische Mentalität in der Provinz nachhaltig prägende, existentielle „Grenzerfahrung“ der Bewährung einer „Volksgemeinschaft“. 

Nicht der eben aus der Taufe gehobene demokratische Parteienstaat hatte den Abstimmungssieg erfochten, sondern der vitale „Geist von 1914“. Weil die in Versailles verfügten territorialen Amputationen Ostdeutschlands als Fortsetzung des Krieges mit diplomatischen Mitteln aufgefaßt wurden, schien es abermals, wie einst im August 1914 und den folgenden vier harten Jahren im Belagerungszustand, gegen „eine Welt von Feinden“ ratsam, sich „im großen Ganzen“ zusammenzufinden. Jedenfalls glaubte Reichskommissar von Gayl, dieser politische Wille, der sich „über allen Parteigeist und Konfessionshader hinwegsetzte“, habe den teilweise bis zu hundertprozentigen deutschen Triumph vom 11. Juli 1920 ermöglicht.