© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Der Flaneur
In der Klinik
Bernd Rademacher

Die Notaufnahme ist kein Ponyhof. „Boah, ich krieg’ zuviel, nicht schon wieder einer. Was ist denn heute bloß los?!“ stöhnt ein Krankenpfleger. Ich bin nämlich schon der fünfte Patient heute morgen und das um neun Uhr früh. 

„Das muß am Wetter liegen“, meint sein Kollege lakonisch. Draußen ist es gewittrig, die Luft elektrisch aufgeladen. Es beginnt ein Warte-Marathon. Weil ich der leichteste Fall bin, muß ich überall hinten anstehen. Der obdachlose Junkie, der auf den Kopf gefallen ist, will keine Fragen beantworten. 

Der Arzt gibt vorerst auf und verschwindet wieder. Der Junkie will auch verschwinden und versucht, mitsamt dem EKG-Gerät, an das er angeschlossen ist, zu türmen. Zwei durchtrainierte Pfleger verhindern das. 

Eine findet meinen Fall so interessant, daß sie mir eine medizinische Studie vorschlägt.

Kaum haben sie ihn wieder in den Behandlungsraum bugsiert, müssen sie den nächsten Fluchtversuch unterbinden: Die Oma, die in der Hausarztpraxis umgefallen war, glaubt nicht, daß sie in der Klinik ist und will auf und davon.  „Was soll ich mit der machen?“ fragt der jüngere Pfleger verzweifelt. „Fixier’se oder sedier’se“, rät der Erfahrenere. 

In den nächsten Stunden lerne ich noch viel Pflegepersonal kennen: Den jungen, polnischstämmigen Mann, der angesichts der Geräuschkulisse aus Stöhnen, Jammern und Röcheln kommentiert: „Tja, das ist der Soundtrack der Notaufnahme.“ Die zierliche Asiatin, die so lustig mit mir schäkert, während sie mir acht Spritzen Blut für das Labor abzapft. 

Die resolute, stämmige Russin, die mit dem Spruch hereinkommt: „So, der angenehme Teil ist jetzt vorbei.“ Und das tätowierte deutsche Mädel, das meinen Fall immerhin so interessant findet, daß sie mich fragt, ob ich an einer medizinischen Studie teilnehmen möchte. 

Danke, andermal vielleicht. Eigentlich würde ich gerne ersmal behandelt werden, inzwischen ist es nachmittags.