© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Sehnsucht nach Friesland
Lieber tot als Sklave
Dieter Stein

Ich bin in Ingolstadt geboren, in Oberbayern und in Südbaden aufgewachsen – und trotzdem sehnte ich mich als Kind schon nach der See. Nach dem friesischen Meer. Warum? In den siebziger Jahren verbrachten wir mit der Familie beinahe jede Sommerferien auf der westfriesischen Nordseeinsel Terschelling. Bei unserem Volvo Kombi waren die Sitze umgeklappt, über dem ausgebreiteten Gepäck Decken und wir bäuchlings darauf wie die Heringe. So starteten wir abends auf die Nachtfahrt Richtung Holland.

Morgens bei der Ankunft am Fährhafen die salzige Luft, das Geschrei der Möwen, der Geruch des Schiffsdiesels. Der Seegang bei der Überfahrt konnte mir nicht hoch genug sein. Auf der Insel die unglaubliche Weite des Strandes, der enorme Gezeitenhub, die donnernde Brandung und steife Brise. Abends rannten wir noch in die Dünen, durch den stechenden Strandhafer und ließen uns den nach Sonnenuntergang erkaltenden Sand herunterrollen. Auf Kommando des Vaters sammelten wir mit zerstochenen Fingern Sanddornbeeren, aus denen traumhafte Marmelade gemacht wurde. Mit Keschern fingen wir in den Prielen Krabben, die meine Mutter ins kochende Wasser warf und die wir begeistert aßen.

Freiheit und Sehnsucht verbinde ich mit der Nordsee. Aufgeladen ist dieses Gefühl durch eine Ballade, die unser Vater öfter – neben anderen – an Winterabenden zu Hause vorlas. Diese eine Ballade hatte es mir besonders angetan: „Pidder Lüng“ von Detlev von Liliencron. Sie spielt auf der nordfriesischen Insel Sylt und handelt von einem armen Fischer, der sich einer gewaltsamen, willkürlichen Obrigkeit widersetzt. Die erste der zehn Strophen lautet:

Der Amtmann von Tondern, Henning Pogwisch,

Schlägt mit der Faust auf den Eichentisch:

Heut fahr ich selbst hinüber nach Sylt,

Und hol mir mit eigner Hand Zins und Gült.

Und kann ich die Abgaben der Fischer nicht fassen,

Sollen sie Nasen und Ohren lassen,

Und ich höhn ihrem Wort: 

                Lewwer duad üs Slaav.

Begleitet von bewaffneten Knechten platzt der Beamte in die Fischerhütte und will die Steuern eintreiben. Als Pidder Lüng sich weigert („Wir waren der Steuern von jeher frei!“), spuckt Pogwisch in den Topf, aus dem die Familie gerade ihr Mittagessen ißt. Pidder Lüng rast vor Wut, drückt den Amtmann in den heißen Grünkohltopf, bis er erstickt – und wird dafür von den Söldnern erschlagen.

Dieser Freiheitswille, diese Unbeugsamkeit des von Liliencron besungenen Fischers Pidder Lüng, der den Leitspruch der Friesen („Lieber tot als Sklave“) im Sterben noch einmal ruft, schlug mich in den Bann und hat mich bis heute nicht verlassen.