© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

„Ich glaube da Herrn Gauland“
Verfassungsschutz: Schwerpunkt ist Kampf gegen Rechtsextremismus / Erhöhtes Potential durch „Flügel“
Christian Vollradt

Wer die Vorstellung eines Bundesverfassungsschutzberichts in der vorigen Legislaturperiode erlebt hat, der könnte sich kaum einen größeren Kontrast zu der jüngsten Version dieser Veranstaltung vorstellen. In der Vergangenheit referierten Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und sein Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen die Zahlen, Daten und Fakten aus dem Bundesamt routiniert und weitgehend emotionslos. Auf dieser Basis wurden amtliche Gefahrenanalysen wiedergegeben. Auf die Frage, warum etwa die Identitäre Bewegung ins Visier des Amts geraten sei, kam dann knapp der Verweis auf personelle Überschneidungen mit anderen einschlägigen extremistischen Organisationen, etwa rechtsextremen „Kameradschaften“. 

Doch am vergangenen Donnerstag, als Horst Seehofer und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, mit dem Bericht für das Jahr 2019 vor die Presse traten, war von bürokratischer Nüchternheit nichts zu spüren. Geradezu leidenschaftlich sprachen der Bundesinnenminister und sein Behördenchef, und beide mahnten und warnten, besonders eindringlich vor der Gefahr von Rechts. 

Die „größte Bedrohung der Sicherheit“ in Deutschland gehe vom Rechtsextremismus aus, betonten beide. Zwar ging 2019 die Anzahl der rechtsextrem motivierten Gewalttaten gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent auf 925 zurück. Es gehe jedoch nicht um eine rein quantitative Bestandsaufnahme, so Haldenwang. Vielmehr sei „die Qualität der Gewalt eine neue“, stellte er mit Blick auf den Mord am Kasseler Ex-Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie den versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle fest, bei dem zwei Passanten ermordet wurden. 

Es ist für Haldenwang der Bericht seines ersten vollständigen Dienstjahres an der Spitze des BfV, an die er 2018 rückte. Und der Amtschef macht keinen Hehl aus der Tatsache, daß er den Fokus seiner Arbeit seitdem auf den Rechtsextremismus gelegt hat. Die Behörde sei personell und technisch stark aufgerüstet worden, man habe „vielfach Methodiken auf den Prüfstand gestellt“ und bewährte Arbeitsweisen aus dem Kampf gegen den islamischen Extremismus auf den gegen Rechtsextremismus übertragen. 

21.290 rechtsextreme Straftaten sind 2019 begangen worden, 13.988 davon sind Propagandadelikte. Beim „rechtsex­tremistischen Personenpotential“ verzeichnet der Verfassungsschutz einen Anstieg von rund 33 Prozent auf 32.080 Personen. Im Jahr zuvor waren es 24.100. Grund hierfür ist, daß der Nachrichtendienst nun den inzwischen aufgelösten „Flügel“ der AfD mit 7.000 Anhängern veranschlagt, ebenso die rund 1.600 Mitglieder der AfD-Parteijugendorganisation Junge Alternative (JA). Seit diesem Frühjahr stuft der Verfassungsschutz den „Flügel“ als eine „gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ ein, die JA gilt als „Verdachtsfall“. Gefragt, wie seine Behörde auf die Zahl von 7.000 „Flügel“-Anhängern komme, wo doch im internen Gutachten lediglich 44 Personen namentlich genannt würden,   antwortete Haldenwang, dies ergebe sich aus Angaben aus der AfD („ich glaube da Herrn Gauland“) sowie aus eigenen Erkenntnissen. Es sei eine Schätzung, die der Realität aber sehr nahe komme.

Sowohl Seehofer als auch der Verfassungsschutz-Chef dementierten zudem, es habe Unstimmigkeiten zwischen Innenministerium und BfV gegeben, obwohl Auszüge der internen Kommunikation, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegen, diese naheliegen. Demnach hatte sich das Ministerium gegen die Erwähnung von „Flügel“ und JA im Verfassungsschutzbericht 2019 ausgesprochen. Dies wäre dann aber „auf Unverständnis bei Politik, Medien und Öffentlichkeit gestoßen“, monierte das Bundesamt – und setzte sich durch. Doch Seehofer sah keineswegs, daß da der Schwanz mit dem Hund wedelte: „Der Verfassungsschutz bestimmt, was in den Bericht kommt.“

Indymedia ist jetzt Verdachtsfall

Haldenwang betonte, man müsse  bei der Abwehr des gewaltsamen Rechtsextremismus auch die „geistigen Brandstifter benennen“. Damit meinte er vor allem die „Neue Rechte“, wozu er neben der Identitären Bewegung (IB) auch das Institut für Staatspolitik, das Netzwerk „Ein Prozent“ und das Magazin Compact zählte. Das ist insofern bemerkenswert, als daß zwar die IB seit 2019 als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft und auch im Bericht des BfV erwähnt wird, die anderen von Haldenwang in diesem Atemzug erwähnten Organisationen aber nicht im Verfassungsschutzbericht 2019 stehen, da sie erst im Frühjahr 2020 offiziell zum Verdachtsfall erklärt wurden.

Unverändert stehe die Bundesrepublik im Blickfeld dschihadistischer Organisationen, die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus sei nach wie vor sehr hoch. Mehrere Anschläge konnten verhindert werden.

Bei den linksextremen Straftaten registrierte der Verfassungsschutz 2019 mit 6.400 fast 40 Prozent mehr als im Jahr davor. Dies sei vor allem deshalb bemerkenswert, weil es in dem Jahr kein relevantes Großereignis für die linksradikale Szene gegeben habe, so Haldenwang. Er wies zudem darauf hin, daß nach dem Verbot des linksextremen Szeneportals „Linksunten Indymedia“ nun auf der Plattform „de.indymedia.org“ ebenso verfassungsfeindliche Inhalte geteilt würden. Deshalb sei die Seite zum Verdachtsfall erklärt worden. Der Behördenchef kritisierte auch die Wahl Barbara Borchardts (Linkspartei) zur Verfassungsrichterin in Mecklenburg-Vorpommern. Dies sei ein Beleg dafür, daß es Linksextremisten gelänge, ihre Anhänger teilweise bis in höchste staatliche Ämter zu bringen. Das Personenpotential der linksextremistischen Szene ist im vergangenen Jahr weiter um 4,7 Prozent auf insgesamt 33.500 Personen gestiegen. 

Jeder vierte Linksextremist (insgesamt 9.200 Personen) sei als gewaltorientiert einzuschätzen. Mit Sorge beobachtet das BfV, daß die Hemmschwelle im linksextremistischen Spektrum, Gewalttaten zu verüben, sinke. Dies zeigte sich anhand zweier versuchter Tötungsdelikte sowie beim Angriff auf eine Immobilienmaklerin in ihrer Privatwohnung. 

Mit Blick auf die aktuelle Debatte um Rechtsextremisten in den Sicherheitsorganen und insbesondere in der Bundeswehr erwähnte Haldenwang, es sei aufgrund von Hinweisen aus seinem Haus in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) inzwischen „eine hohe dreistellige Zahl“ von Reservisten aus der Truppe ausgeplant worden, da die Behörden Zweifel an der Verfassungstreue der Betreffenden hätten. 

„Kein Extremist darf sich mehr sicher fühlen“, mahnte Haldenwang, der den Verfassungsschutz als „Immunsystem der Demokratie“ versteht. Und sein Vorgesetzter, der Bundesinnenminister hob am Ende hervor, der Kampf gegen Extremismus sei die Konstante seines politischen Lebens.