© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Der Geßlerhut hat viele Farben
Politisierung: Ob Eisessen, Pop oder Bahnfahren – affirmative Bekenntnisse allüberall
Boris T. Kaiser

Die moderne westliche Gesellschaft ist nahezu bis in die allerletzten Winkel des Zusammenlebens durchpolitisiert. Kaum ein Sportereignis, Popkonzert, Theaterabend oder Galadinner, ohne daß zu Beginn ein politisches Bekenntnis für oder gegen irgendeine vermeintlich gute oder eben schlechte Sache verlesen werden würde. Kaum eine Produktwerbung, eine noch so seichte Unterhaltungsshow, Feierlichkeit, sei sie nun privater oder geschäftlicher Natur, bei der nicht irgendwann die ganz selbstverständlich angenommene gemeinsame gesellschaftspolitische Haltung zur Sprache käme.

Umweltschutz, Toleranz, „Vielfalt“

Wer sich nicht äußert, macht sich verdächtig. Deutschlands erfolgreichste Schlagersängerin, Helene Fischer, wollte lange Zeit einfach nur ihren Job machen. Dieser bestand für die beliebte Künstlerin in erster Linie aus Musik und aufwendigen Bühnenshows, mit denen sie es ihrem Publikum ermöglichte, einmal der grauen, problembelasteten Tristesse ihres Alltagslebens zu entfliehen. Eben ganz so, wie es lange als Usus und wesentliche Hauptaufgabe eines Gesangs-Acts in ihrem musikalischen Genre galt. Im Zeitalter der totalen Politisierung ist das vielen aber nicht mehr genug. Deshalb wurde Fischers angeblich mangelndes gesellschaftliches Engagement immer häufiger Thema in den neuen und herkömmlichen Medien.

Auch Showkollegen wie der ewige Pop-Punk Campino oder der Moderator Klaas Heufer-Umlauf, einer der selbsternannten Großmeister des politisch korrekten Witzes, übten Kritik und taten damit auch gleich etwas, um die eigenen politischen Tugendhaftigkeits-Akkus wieder aufzuladen.

Der öffentliche Druck zeigte Wirkung. Im September 2018 hat sich die Schlagerkönigin bei einem Konzert in Berlin dazu entschlossen, in einer ihrer Bühnenansagen auch „ein Zeichen“ zu setzen, indem sie ihren Fans zurief: „Erhebt gemeinsam mit mir die Stimmen: gegen Gewalt, gegen Fremdenfeindlichkeit!“ Wenige Stunden vor dem Auftritt schrieb Fischer auf Instagram und Facebook: „Wir können und dürfen nicht ausblenden, was zur Zeit in unserem Land passiert, doch wir können zum Glück auch sehen, wie groß der Zusammenhalt gleichzeitig ist – das sollte uns stolz machen.“ Die Sängerin nutzte dabei auch den verbreiteten, im Rahmen eines linksextremen Konzerts in Chemnitz entstandenen Hashtag „Wir sind mehr“.

Die Aussagen der Plattenmillionärin lösten bei ihren einstigen Kritikern allgemeine Befriedigung aus. Mehr noch: In den großen Zeitungsredaktionen überschlug man sich geradezu vor Begeisterung über das so berühmte Neumitglied im Klub der Guten (FAZ: „Helene Fischer bricht ihr Schweigen“).Der zuvor so strenge Komiker Klaas Heufer-Umlauf änderte seinen Twitter-Namen als Belohnung für das brav abgelieferte Bekenntnis vorübergehend sogar in „Klaas-Helene-Umlauf“.

Auch die meisten großen Firmen können oder wollen heute nicht mehr ohne politisch korrekte Positionierungen auskommen. Dahinter können durchaus, aus unternehmerischer Sicht, rationale Überlegungen stecken. Gerade große, global agierende Konzerne, die in der Vergangenheit oft durch Überwachungsskandale, mangelnden Mitarbeiterschutz oder Niedriglöhne in der Dritten Welt negativ in die Schlagzeilen geraten sind, können hier, mit vergleichsweise weichen Themen wie Toleranz, Vielfalt oder Umweltschutz, die eigene Weste moralisch wieder ein wenig reiner waschen. Immer häufiger gelingt es ihnen sogar, ihre einst schärfsten Kritiker und Gegner, vor allem im politisch linken Spektrum, mit in vielfacher Hinsicht relativ kostengünstigen oder sogar profitablen Aktionen, zum Beispiel einem in den Firmenfarben geschmückten Wagen beim „Christopher Street Day“ (CSD), der Abschaffung von Gratis-Plastiktüten an der eigenen Kasse oder einem Aufruf gegen Rechts in den Sozialen Netzwerken, zumindest vorübergehend, zu Verbündeten zu machen.

Aktuell ist es vor allem der durch den Tod des Afroamerikaners George Floyd neu ins Rollen gebrachte Hype um die Bewegung „Black Lives Matter“ (BLM), auf den die Konzerne aufspringen, um vorwiegend der so begehrten Zielgruppe der jungen Kunden zu signalisieren: Bei uns könnt ihr guten Gewissens euer Geld lassen. Das nimmt mitunter absurde Züge an. So verkündete der Spielzeughersteller Lego, zeitweise die digitale Werbung für alle Bausätze mit Polizeibezug einzustellen. Der dänische Bauklötzchenmacher wollte die Aktion als Solidaritätsbekundung mit den BLM-Protesten gegen vermeintlich rassistische Polizeigewalt verstanden wissen. Ein Unternehmenssprecher sagte dem US-Faktencheckerportal ­Snopes.com,

Lego wolle „die Baumeister von morgen“ entwickeln, wozu es gehöre, sie zu inspirieren, „tolerant, integrativ und freundlich zu sein“.

Einträgliche Sensibilität gegenüber Minderheiten

Auch für Unternehmen gilt inzwischen: Nichtsolidarisierung wird als Ablehnung gewertet. Als Starbucks seinen Mitarbeitern während der Arbeitszeit das Tragen von T-Shirts mit „Black Lives Matter“-Aufdruck verbat, löste das im Internet einen Wutsturm aus, der so gewaltig war, daß die Kaffeehauskette schon wenige Stunden später eine 180-Grad-Wende vollzog und seine Angestellten mit einem eigenen BLM-Hemd ausstattete.

Daß ausgerechnet Starbucks ein solcher Fauxpas in Sachen Tugendprotzerei unterlaufen ist, hat viele gewundert. Gehört der Franchisegeber aus den USA doch sonst zu den Unternehmen, die sich das Wort „Woke“ ganz groß auf die eigene Firmenfahne geschrieben haben; also besonderen Wert darauf zu legen, Progressivität und ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Befindlichkeiten von Minderheiten zu signalisieren. Überboten wird die Kaffeekette hierbei allenfalls noch vom Speiseeishersteller Ben & Jerry’s, der sogar eigene „politische Geschmacksrichtungen“ seiner Fett- und Zuckerbomben verkauft und Sorten wie „One Sweet World“ oder das Anti-Trump-Eis „PeCan Resist“ mit Statements gegen Rassismus und für die Homo-Ehe garniert.

Noch recht neu im Geschäft der betont moralischen Geschäftemacher ist die Deutsche Bahn. Die fährt inzwischen nicht nur mit einem grünen statt einem roten Streifen auf ihren ICEs – natürlich dem Klima zuliebe –, sondern dekoriert die eigenen Infoschalter gegenwärtig mit der Regenbogenfahne. An 63 Bahnhöfen und DB-Bürogebäuden wird das Schwulen-Symbol gezeigt oder wohl eher propagiert. Oder die Bahn dreht unter dem Titel „Wir fühlen mit Euch – Pride Ride bei der DB“ einen ranschmeißerischen Werbespot, weil die alljährliche Homosexuellen-Wallfahrt CSD-Parade wegen der herrschenden Corona-Verordnung an diesem 25. Juli ausfallen muß.

Auch Filme und Serien kommen heute häufig nicht mehr ohne politische Botschaften aus. Krimi-Reihen wie der ARD-„Tatort“ prangern die tatsächlich oder vermeintlich herrschenden sozialen Verhältnisse an, indem sie sowohl Verbrecher wie auch Kommissare in immer kaputteren Verhältnissen leben lassen. Wobei diese nur bei der Täterseite auch als Ausrede für das eigene Fehlverhalten herhalten darf. Ist der Mörder am Ende tatsächlich mal kein reicher, toxisch-maskuliner, weißer Industrieller, Faschist, sondern eine Frau oder gar ein Migrant, hat er zumindest immer menschlich nachvollziehbare Gründe für seine Tat gehabt.

Vor allem am Thema „Flüchtlinge“ kommt man heute als Zuschauer kaum noch vorbei. Sogar eine harmlose Geschichte über Mädchenfreundschaft und Pferde mutiert da schnell zur kitschigen „Refugees welcome“-Klamotte. Im bisher letzten Film der Bibi-und-Tina-Reihe, „Bibi & Tina: Tohuwabohu Total“ (2017), treffen die beiden Teenagerinnen bei einem gemeinsamen Ausritt auf einen jungen Ausreißer, welcher sich als Aladin vorstellt und behauptet, aus Syrien nach Deutschland geflohen zu sein. Aus der zufälligen Begegnung entsteht eine kunterbunte Story über Identitätsbetrug, Abschottung und Zwangsehen.

Erstmals LGBTQ-Charaktere bei Pixar

Damit demnächst noch mehr Kinder und Erwachsene in den Genuß solcher cineastischen Meisterwerke kommen, hat die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (FFHSH) kürzlich einen Fragebogen zu „Diversität“ entwickelt, den künftig alle Filmemacher ausfüllen müssen, um Fördermittel zu erhalten. In dem auf der FFHSH-Website einzusehenden Formular unter der Überschrift „Vielfalt vor und hinter der Kamera“ werden die Antragsteller unter anderem gefragt, ob in einem geplanten Filmprojekt „People of Colour“ oder Menschen mit anderer als heterosexueller Orientierung vorkommen. Weitere Fragen auf dem Weg zum Geld: Werden Figuren mit einem unterprivilegierten sozioökonomischen Hintergrund dargestellt? Werden Themen wie Migration, Hautfarbe, Behinderung und Geschlechterrollen direkt aufgegriffen? Gefragt wird auch nach Marketing-Maßnahmen, die eine „vielfältige, multikulturelle und inklusive“ Gesellschaft ansprechen.

Bei Streamingdiensten gilt Diversität schon lange als größtes und oft einzig wichtiges Qualitätsmerkmal. Aktuelle Lieblingsminderheit der Kreativen in Hollywood und anderswo sind sogenannte Transmenschen. Mit Serien wie „Transparent“ (Amazon Prime) oder der Netflix-Doku „Disclosure: Trans Lives on Screen“ wollen die Macher dem Publikum einbleuen, wie wichtig „transgender people“ für die Filmwelt und die gesamte Gesellschaft sind und schon immer waren. Das Animationsstudio Pixar, das zum Disney-Konzern gehört und dessen Produktionen bisher als familienfreundlich galten, hat erstmals in einen Film LGBTQ-Charaktere eingebaut. Im Kurzfilm „Out“, der auf der Streaming-Plattform „Disney+“ mit 54 Millionen Abonnenten gezeigt wird, bilden die Protagonisten Greg und Manuel ein junges homosexuelles Pärchen.

Wer in seiner Freizeit nicht permanent belehrt, sondern einfach nur entspannen und unterhalten werden möchte, hat in unseren durch und durch durchpolitisierten Industriegesellschaften schlechte Karten.