© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Eine selbstgestellte Falle
Die europäische Mächtekonstellation am Vorabend des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71
Dag Krienen

Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 ist, nach dem Deutsch-Dänischen von 1864 und den Deutschen oder Bruderkrieg von 1866, als letzter von drei Kriegen in Erinnerung geblieben, die zur Gründung des Zweiten Deutschen Reiches führten. Doch war diese Kette von Kriegen nicht das Ergebnis einer konsequenten Politik des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck zur Schaffung der kleindeutschen Einheit. 

Tatsächlich besaß Bismarck ein relativ pragmatisches Verhältnis zur nationalen Einheit Deutschlands, die er weniger als Ziel an sich, sondern als Mittel zur besseren Absicherung der Stellung des preußischen Staates in Europa begriff. Aus seiner Sicht konnte die Sicherheit und der Großmachtanspruch Preußens auf Dauer nur erhalten werden, wenn es eine hegemoniale Stellung in Deutschland gewann. Durch den Krieg von 1866 hatte Preußen bereits durch umfassende Annexionen sein Territorium abgerundet und durch den von ihm beherrschten Norddeutschen Bund mit den Staaten nördlich der Mainlinie seine Großmachtstellung konsolidiert. 

Den Norddeutschen Bund unter Anschluß der süddeutschen Staaten zu einem kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung weiterzuentwickeln lag nahe, war aber nicht vordringlich. Deshalb sprach sich der Kanzler des Norddeutschen Bundes für eine langsame Evolution zur (klein-)deutschen Einheit und gegen „ein willkürliches, nur nach subjektiven Gründen bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung der Geschichte“ aus. Eine Angliederung der Süddeutschen durch Zwang und ohne deren Einverständnis lehnte er ab. Noch Anfang 1870 hielt er fest, daß „die deutsche Einheit in diesem Augenblick keine reife Frucht ist“. 

Paris bestand auf „legitimer Vormachtstellung“ in Europa

Bei jedem außenpolitischen Schritt behielt Bismarck zudem die voraussichtliche Haltung der übrigen europäischen Großmächte im Auge. In den Jahren nach 1866 ging er dabei von folgenden Voraussetzungen aus. Für das damals an den Angelegenheiten des Kontinentes ungewöhnlich desinteressierte Großbritannien war immer noch Frankreich der gefährlichste Rivale in Europa. In London wurde die Aufwertung Preußens als Gegengewicht zur französischen Macht nicht ungern gesehen, und auch eine evolutionäre Entwicklung zur deutschen Einheit galt als akzeptabel, solange Preußen auf Gewalt verzichtete. Rußland war zwar über die Gründung des Norddeutschen Bundes nicht glücklich gewesen. Allerdings überwog die Abneigung gegen die Habsburgermonarchie als Rivale auf dem Balkan, was Sankt Petersburg an seiner generell preußenfreundlichen Einstellung festhalten ließ.

In dem infolge der Niederlage zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgebildeten Habsburgerreich war der Gedanke an eine Revanche für 1866 durchaus noch virulent. Wien mußte aber auf die deutschsprachigen und die ungarischen Einwohner der Monarchie Rücksicht nehmen sowie die Rivalität mit Rußland im Auge behalten. Eine offen antipreußische Politik erschien nicht angeraten. Zu einer Beteiligung an einem Krieg gegen Preußen hätte Wien sich nur unter sehr günstigen Umständen bereit finden können. 

Für das zweite französische Kaiserreich unter Napoleon III. stellte der preußische Aufstieg hingegen eine einseitige Machtverschiebung zu seinen Lasten dar, die die von Regierung wie Volk weiterhin wie selbstverständlich in Anspruch genommene „legitime Vormachtstellung“ des Landes in Europa in Frage stellte. In Paris wurden alsbald Rufe nach „Rache für Sadowa“ (Königgrätz) laut. Dabei hatte Napoleon III. ursprünglich einen preußischen Erfolg über den Erzrivalen Österreich durchaus für wünschenswert gehalten – allerdings nur bei entsprechenden „Kompensationen“ für Frankreich. Die im Vorfeld des Krieges 1866 von französischer Seite zur Sprache gebrachte Abtretung linksrheinischer Gebiete Deutschlands hatte Bismarck indes abgelehnt, weil ihn dies die Unterstützung der deutschen Nationalbewegung gekostet hätte. Er nutzte Napoleons Wünsche später dazu, die süddeutschen Staaten zum Abschluß von Schutz- und Trutz-Bündnissen gegen einen eventuellen französischen Angriff zu bewegen. 

Auch ein Gebietszuwachs Frankreichs auf Kosten Belgiens und Luxemburgs, mit dem sich Bismarck vor 1866 unverbindlich einverstanden erklärt hatte und den er im Falle Luxemburgs 1867 auch insgeheim zunächst unterstützt hatte, scheiterte. Eine Konferenz der europäischen Großmächte erklärte schließlich Luxemburg zu einem unabhängigen Staat mit garantierter Neutralität. Der Abzug der in Luxemburg stationierten preußischen Garnisonstruppen war für Frankreich nur ein schwacher Trost.

Nach dem Scheitern des Erwerbs von „Kompensationen“ war Paris noch mehr darauf erpicht, weitere preußische Machtausdehnungen zu verhindern. Doch strebten zunächst weder Napoleon III. noch Bismarck zielstrebig auf einen Krieg zu. Beide Seiten kalkulierten ihn aber ein und trafen Vorbereitungen. Napoleon III. erhoffte sich eine militärische Unterstützung Österreich-Ungarns und Italiens gegen Preußen, mußte sich aber diesbezüglich mit vagen Versprechen Wiens und Florenz begnügen. Bismarck gelang es hingegen 1868, das Risiko einer österreichischen Intervention durch Übereinkommen mit Sankt Petersburg minimieren, wonach im Falle eines französischen Angriffs auf Preußen Rußland Truppenmassierungen an der österreichischen Grenze vornehmen sollte.

Die Pläne einer Demütigung Preußens schlugen fehl

In dieser Situation mißtrauischer Mächtekonkurrenz führte ein zunächst unbedeutend erscheinender Anlaß, die spanische Thronfolgekrise nach der Absetzung der bourbonischen Königin Isabella II. 1868, zur Eskalation. Als einen von mehreren Thronfolgekandidaten faßte die spanische Interimsregierung den Prinzen Leopold von Hohenzollern ins Auge, ein Mitglied der süddeutschen, katholischen Nebenlinie des Hauses. Erst nach einigem Hin und Her und nachdem König Wilhelm I. als Oberhaupt des Hauses insgeheim sein Plazet gegeben hatte, nahm Leopold am 19. Juni 1870 das Angebot an. Bismarck, der die Kandidatur befürwortete, aber nie die vollständige Kontrolle über die Behandlung der Frage in Preußen besaß, bestand darauf, daß die Thronfolge offiziell nur als hohenzollernsche Familien- und nicht als amtliche Staatsangelegenheit gelten durfte. Zudem sollte die Kandidatur Leopolds zunächst geheimgehalten werden und die Königswahl in Spanien möglichst rasch erfolgen. Beides mißlang. Madrid informierte den französischen Botschafter am 2. Juli von der Kandidatur.

Die Empörung in Frankreich war groß. In der französischen Regierung setzten sich jene Kräfte durch, die glaubten, nun zu einem großen Schlag gegen den Rivalen ausholen zu können. Ziel war nicht unbedingt der Krieg, aber zumindest eine deutliche diplomatische Demütigung des preußischen Rivalen. Das französische Kabinett beschloß am 6. Juli 1870, den Konflikt zu eskalieren. Außenminister Gramont erklärte vor der jubelnden Kammer, daß Frankreich es nicht hinnehmen könne, einen Hohenzollern auf dem Thron Karls V. sitzen zu sehen – eine Reminiszenz an die habsburgische Umklammerung im 16. Jahrhundert. Indirekt mit Krieg drohend, forderte er ultimativ die Rücknahme der Kandidatur Leopolds. 

Dessen Vater verkündete am 12. Juli mit Billigung König Wilhelms den Rückzug seines Sohnes. Solange indes der König weiterhin an der Fiktion der spanischen Kandidatur als reiner Familienangelegenheit festhielt, war das Minimalziel der französischen Regierung, die Erniedrigung Preußens, nicht erreicht. Gramont setzte deshalb durch, daß der französische Botschafter Graf Vincent Benedetti am 13. Juli bei dem in Bad Ems zur Kur weilenden König vorsprach. Dieser solle eine Entschuldigung für den Versuch der Installation eines Hohenzollern auf dem spanischen Thron aussprechen und eine Garantieerklärung dafür abgeben, daß dies nie wieder geschehen werde. Damit hätte Wilhelm indirekt eingeräumt, daß die Kandidatur doch regierungsamtlich betrieben worden war. Dies konnte und wollte der König unter keinen Umständen tun und lehnte jede weitere Unterredungen mit Benedetti ab. 

Wilhelm unterrichtete über den Diplomaten Heinrich Abeken in einer telegraphischen Depesche die preußische Regierung über die Vorgänge in Bad Ems und stellte deren Veröffentlichung anheim. Auf Bismarcks Anregung wurde die sogenannte Emser Depesche in einer verkürzten Form veröffentlicht, die die Anfragen Benedettis unverschämter und die Zurückweisung des französischen Botschafters durch den König als schroffer erscheinen ließen als der Urtext. Dies ist als bewußte Provokation der Franzosen zum Kriege gedeutet worden. Doch war die verschärfte Emser Depesche nicht unmittelbar verantwortlich für die französische Kriegserklärung. Noch bevor ihr Text in Paris vorlag, hatte die französische Regierung – nachdem sie von Benedetti über die Zurückweisung ihrer Forderung durch Wilhelm I. erfahren hatte – die volle Mobilmachung der Armee angeordnet. Nachdem sie ihr Minimalziel, die offene Demütigung Preußens nicht erreicht hatte, saß die französische Regierung in einer Falle, in die sich selbst manövriert und aus der sie nur durch den Krieg hinauskommen konnte. Die Emser Depesche half ihr später nur dabei, diesen Krieg vor der Öffentlichkeit leichter als alternativlose Antwort auf eine angeblich unerträgliche Beleidigung Frankreichs durch den preußischen König zu rechtfertigen. Am 15. Juli 1870 bewilligte das französische Parlament mit 245 zu 10 Stimmen die Kriegskredite; am 19. Juli 1870 erklärte das Kaiserreich dann Preußen den Krieg.