© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Es war nicht die Dekadenz
Der US-Althistoriker Kyle Harper betrachtet äußere Umstände wie Seuchen und klimatische Abkühlung, die zum Ende des Römischen Reiches führten
Eberhard Straub

Der Untergang des Römischen Reiches blieb für die Europäer immer eine große Mahnung. Er erinnerte sie eindringlich daran, daß nichts in der Geschichte Bestand hat und alles vergänglich ist. Das Römische Reich hat mehr als tausend Jahre gedauert. Es war in der Weltgeschichte einzigartig und wurde in Europa als klassisches Vorbild geschätzt, ja verehrt. 

Das Römische Reich lebte im Gedächtnis ununterbrochen weiter. Es wirkte als geistige Kraft fort, solange die Überzeugung unerschüttert bestand, daß die Geschichte über Weltklugheit und Staatsvernunft beispielhaft unterrichte. Insofern waren auch die Krisen des Römischen Reiches ein großes Lehrstück, wie sie nämlich erfolgreich überwunden werden können, die Notstände praktisch die Voraussetzung für Übergänge in neue Staats- und Lebensformen sind. Katastrophen und Zusammenbrüche gehören zum ständigen Werden aus dem Gewordenen, damit sich neues Leben aus den Ruinen entwickeln kann. 

Germanen bildeten keine unüberwindbare Gefahr

Der US-Amerikaner Kyle Harper schildert in „Fatum“, seiner Geschichte Roms vom Ende des zweiten bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts n. Chr. zuweilen nicht ohne Bewunderung, mit wie es den Römern immer wieder gelang, ihr Reich zu erneuern und vor einer Katastrophe zu bewahren, die schließlich dennoch eintrat. Das Wort Fatum erinnert an Übermächte, denen der Mensch endlich erliegen muß, an ein unausweichliches Verhängnis. Im Klima und Klimawandel möchte er die fatale Macht des Schicksals erkennen. 

Zur Zeit des Augustus, der die Römische Republik nach vielen Bürgerkriegen beruhigte und monarchisch umgestalte, befand sich das Klima in einer sehr stabilen Wärmephase, die fast zwei Jahrhunderte dauerte. Ab dem frühen dritten Jahrhundert kam es zu überraschender Unbeständigkeit und zu allmählicher Abkühlung, die um die Mitte des 6. Jahrhundert zu einer kleinen Eiszeit führte, die im neunten Jahrhundert nach und nach abklang. 

Doch die Klimaschwankungen allein bewirkten nicht den allmählichen, sich lange hinziehenden Wandel. Wirklich hilflos waren die Römer vor den neuen und bis dahin unbekannten Pandemien, die zuerst 160 n. Chr. fast dreißig Jahre auftraten, sich wieder beruhigten, in der Mitte des dritten Jahrhunderts wiederkehrten und abermals verschwanden. Die Pest, die ab 540 sich von Alexandria aus im gesamten Reich ausbreitete, wütete mit Unterbrechungen zwei Jahrhunderte. Über die Hälfte der Bevölkerung fiel ihr zum Opfer, die sich wegen immer neuer Wellen nicht mehr zu regenerieren vermochte. Kyle Harpers Geschichte der Spätantike ist eine dramatische Krankengeschichte und zugleich eine Erfolgsgeschichte der Römer, sich trotz widrigster Umstände als Herr und nicht als Opfer der Geschichte zu bewähren. 

Die Seuchen – Pocken und später die Pest – konnten so rasch das Römische Reich durchdringen, weil sein Straßennetz, die Schiffahrt auf Flüssen und die Verbindungen zur See hervorragend organisiert waren und das Reisen beschleunigten. Die Funktionstüchtigkeit der Infrastruktur bot die besten Voraussetzungen, die Seuchenerreger bis in ganz abgelegene Gebiete zu befördern. Außerdem beruhte der Glanz des Weltreichs auf der Lebenskultur der Großstädte. Rom, Alexandria, Antiochia, Karthago und später Konstantinopel waren elegante Metropolen mit großartigen Plätzen, Straßen, Thermen und Theatern, die Massen anzogen, die sich aneinander drängten und sich in ihren engen Wohnungen in Hochhäusern  mit geringem Komfort kaum aus dem Weg gehen konnten. Die Urbanität, auf die die Römer so stolz waren, schuf die besten Möglichkeiten, von Krankheiten angesteckt zu werden. 

Das mußte gar nicht erst die Pest sein. Die schlimmste und dauerhafteste Plage waren Malaria und Tuberkulose. Das nahe Miteinanderleben und unzureichende hygienische Anlagen gefährdeten dauernd das Leben. Besonders widerstandsfähig waren vor allem die Einwohner der Städte nicht. Die Römer – nicht nur in Rom – lebten im Durchschnitt ungesund, gefährlich und kurz. Das machte sie nicht hysterisch. Sie verfügten trotzdem über das stärkste Heer mit vorzüglich trainierten Soldaten, das in der Regel erfolgreich die Grenzen sicherte und damit die gewöhnliche Routine des Alltags vor störenden Überraschungen und Unordnung bewahrte. Auch während der ersten Pandemien mit ihren Schrecknissen und Toten wurde das öffentliche Leben nicht massiv kontrolliert oder gar eingeschränkt. Um 190 n. Chr. kam es zu einer neuen Blüte, einer Wiedergeburt nach den überstandenen Übeln. 

Die Menschenverluste nötigten dazu, die Verwaltung und das Heer umzubauen. Es waren nun koloniale Eliten, die das Reich in ihre Hand nahmen, die römische Aristokratie verdrängten,  jeden Freien zum Bürger machten und unter dem kaiserlichen Staatsabsolutismus einen ausgedehnten, effizienten Staatsapparat aufbauten. Die reine Funktionstüchtigkeit genügte nicht mehr. Die Monarchie brauchte eine sittliche Rechtfertigung, die altrömischen Ideen hatten sich verbraucht. Es waren gerade die Soldatenkaiser, halbbarbarische Illyrer, die ab der Mitte des dritten Jahrhundert in raschem Wechsel, nach einer Legitimität suchten, die ihnen fehlte, und mit der dem Reich insgesamt eine geistig-kulturelle Aufgabe zugewiesen werden konnte.  Es war das Gottesgnadentum, zuerst in Anlehnung an neue heidnische Kulte wie den des unbesiegbaren Sonnengottes, und dann im vierten Jahrhundert verbunden mit dem Christentum. 

Keiner der Soldatenkaiser wollte das Römische Reich, das um 260 zu zerfallen drohte, beseitigen. Armee, Verwaltung und Kirche schufen ein neues Rom, in dem das alte, ewige Rom sich verjüngte. Für Kyle Harper ist das vierte Jahrhundert eine glanzvolle Epoche, in dem Konstantinopel zur prächtigen Konkurrentin der ehrwürdigen Reichshauptstadt wird. 

West und Ost standen immer in einer gewissen Spannung zueinander, doch die neue Legitimität – ein Gott, ein Kaiser, ein Reich – überbrückte alle möglichen nationalen und regionalen Unterschiede. Die Germanen bildeten keine unüberwindbare Gefahr für die Einheit des Reiches. Sie waren ihrerseits geblendet von dessen Kultur und seiner weiterhin vorhandenen politischen Kraft. Germanische Generale heirateten in vornehme Familien hinein, wie Stilicho gegen Ende des vierten Jahrhunderts, und kämpften entschlossen für Kaiser und Reich. 

Aber im Westen ließen die Kräfte nach, sich der Germanen noch erfolgreich erwehren zu können. Der Osten, stets unter persischem Druck und um die Sicherheit der eigenen Grenzen besorgt, sah sich außerstande, im Westen einzugreifen, der zur Beute fränkischer und gotischer Könige im frühen fünften Jahrhundert wurde.  

Jahrzehntelanges Wüten der Pest leitete Untergang ein 

Das hatte freilich wenig mit dem Klima zu tun als vielmehr mit der nachlassenden Fähigkeit oder Bereitschaft, die menschlichen Verluste auszugleichen. Das zölibatäre Leben schien vielen als das einzig erstrebenswerte. Doch auch während der Auflösung im Westen sind es weiterhin die römischen Eliten, die das künftige Spanien oder Frankreich vor dem Chaos bewahren. Unter Kaiser Justinian – auch ein Illyrer und lateinischer Römer – kam es im Osten ab 527 noch einmal zu einem kraftvollen Versuch, im Westen und in Afrika das Reich zu erneuern, was eindrucksvoll gelang. 

Ganz zu Recht sieht Kyle Harper in Kaiser Justinian einen der größten Herrscher Roms, fähig, in anderen deren Größe zu erkennen und sie für das Reich einzusetzen. Seine Epoche war anfänglich eine Zeit außerordentlicher literarischer und wissenschaftlicher Regsamkeit, ausgreifender Bautätigkeit und militärischer Erfolge. Die Hagia Sophia  und der Codex Justiniani, der das bürgerliche Recht Roms zusammenfaßte, sind die ehrwürdigsten Zeugnisse dieser letzten goldenen Jahre.  

Ab 536 kam es zu Sommern ohne Licht und Wärme, wahrscheinlich bewirkt durch massive Vulkanausbrüche, und es begann eine Periode andauernder Abkühlung. In ihr hätte sich der flexi-ble Mensch wohl zurechtfinden können – was ihm schließlich auch gelang –, aber 540 brach die Pest aus, die diesmal Jahrzehnte im Wortsinne wütete und für die kommenden zwei Jahrhunderte eine schreckliche Plage blieb. Jetzt trat vorübergehend eine umfassende Katastrophe ein, der tatsächliche Untergang des Römischen Reiches, den die Eroberungen der Araber seit dem frühen siebten Jahrhundert besiegelten. 

Doch in Byzanz, das sich politisch erholte, fand Ostrom noch einmal zu einer beständigen Ordnung, und im Westen kam es unter Karl dem Großen und später unter Otto dem Großen zu einem verjüngten Römischen Reich, dessen Kaiser fast tausend Jahre die Deutschen stellten. Außerdem fügte sich die Römische Kirche in die Traditionen des Römischen Reiches, das in mannigfachen Sonderformen fortlebte. Nicht Klimakatstrophen oder Pandemien entscheiden über den Gang der Geschichte. Es ist der Mensch, der – immer durch die Natur bedrängt – sich dennoch seine Welt und Umwelt schafft und deswegen eine Geschichte hat, weil er Geschichte macht. 

Kyle Harper: Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches. Verlag C.H. Beck, München 2020, gebunden, 567 Seiten, 32 Euro