© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Umwelt
Das Wiener Hamsterrad
Paul Leonhard

Krawalle zwischen türkisch-rechtsnationalen Grauen Wölfen (Ülkü Ocaklari) und linken Kurden sowie Antifa, ein wahlkämpfender SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig, der von „inakzeptablen“ Vorfällen spricht – im sommerlichen Wien ist es trotz Corona-Krise nie langweilig. Selbst unter der Erde geht’s rund: Weil Bauarbeiter zwei Hamsterbaueingänge zerstört haben, stehen die Wiener Verwaltungsrichter nun vor einem Problem: Sie müssen klären, wie hoch bei einem verlassenen Quartier die Wahrscheinlichkeit ist, daß die Nager zurückkehren. Dazu hat sie die Siebente Kammer des Europäischen Gerichtshofs verurteilt (Rechtssache C-477/19). Zuvor hatten sie den EuGH gebeten, den Begriff der Ruhestätten in der EU-Artenschutzrichtlinie zu klären, was nun in einem elfseitigen Urteil erfolgt ist – und dies stärkt die Rechte von Cricetus cricetus.

Eine EU-Richtlinie ohne Anhaltspunkt für die Definition des Begriffs Ruhestätten.

Arbeiter hatten eine Grasnarbe abgetragen, um den auf den benötigten Flächen siedelnden Feldhamster dazu zu bringen, umzuziehen. Zuvor hatte ein Sachverständiger alles kartiert und ermittelt, ob die Baue bewohnt sind. Versäumt wurde, sich dies genehmigen zu lassen, weswegen ein Mitarbeiter der Baufirma wegen Verstoßes gegen das Naturschutzrecht zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Doch der ging in Widerspruch – und provozierte die Fragen: Was ist eine Ruhestätte? Wie ist eine Fortpflanzungsstätte räumlich abzugrenzen? Die Habitatsrichtlinie biete zwar keinen „Anhaltspunkt für die Definition des Begriffs Ruhestätten“, aber diese seien vor Handlungen zu schützen, die zu ihrer Zerstörung führen könnten – auch dann, wenn sie von den Tieren nicht genutzt werden, aber die Möglichkeit besteht, daß diese dorthin zurückkehren, so der EuGH. Wie es in Wien nun weitergeht, dürfte EU-weit interessieren: Das Verbreitungsgebiet des geschützten Nagetiers reicht von Belgien bis nach Osteuropa.