© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

„Wir werden euch alle abschlachten“
Rechtsextremismus: Unter der Selbstbezichtigung „NSU 2.0“ verschicken Unbekannte Drohmails an Politiker / Zwei Festnahmen in Bayern
Peter Möller

Der Aufwand ist enorm: Im Fall der mindestens 69 Drohmails, die bislang unbekannte Täter unter der Selbstbezichtigung „NSU 2.0“ an bundesweit 27 Personen vornehmlich aus dem linken politischen Spektrum verschickt haben, verläßt sich die Polizei nicht allein auf die klassische Ermittlungsarbeit. Neben der Befragung von Zeugen und dem Auswerten von Hinweisen und Spuren versuchen die Beamten den Verfassern der Mails auch mit Hilfe psychologischer und sprachlicher Gutachten auf die Schliche zu kommen. Zudem wurden Internet-Experten eingeschaltet und sogar Rechtshilfeersuchen an Rußland und die Vereinigten Staaten gestellt. Auch die deutschen Geheimdienste sollen in dem Fall informell um Unterstützung gebeten worden sein, berichtet die Süddeutsche Zeitung.

Persönliche Informationen stammten aus Polizeidaten

Dieser ungewöhnliche Ermittlungsaufwand zeigt, unter welchem Druck die Ermittler stehen. Denn der Inhalt der E-Mails, die unter anderem an die Vorsitzende der Linksfraktion im Hessischen Landtag, Janine Wissler, die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne), die Talkshow-Moderatorin Maybrit Illner und den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, verschickt wurden, ist brisant: Neben Todesdrohungen und üblen Beschimpfungen („Wir wissen alle genau, wo ihr wohnt. Wir werden euch alle abschlachten.“) enthalten die Mails teilweise persönliche Informationen, die nicht für jedermann zugänglich sind.

Auf der Suche nach den Tätern geriet daher schnell die hessische Polizei unter Verdacht. Denn in Hessen waren vor zwei Jahren die ersten drei Drohmails verschickt worden. Die darin enthaltenen sensiblen persönlichen Daten der Adressaten waren zuvor von Polizei-Computern abgefragt worden. Aus diesem Grund wird derzeit gegen fünf Polizisten ermittelt, die mittlerweile suspendiert wurden.

Vor allem für linke Kreise war schnell klar, daß hinter dem Kürzel „NSU 2.0“, mit dem die Täter bewußt an die Mordserie der als „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“ bekannt gewordenen Terrorgruppe aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe erinnern wollen, ein gefährliches rechtsextremistisches Netzwerk steht, das bis in die hessische Polizei reiche. Mitte Juli mußte angesichts des wachsenden politischen Drucks der hessische Polizeipräsident Udo Münch zurücktreten. Doch dazu passen nicht die jüngsten Ermittlungsergebnisse: Am Montag gab die Polizei bekannt, daß bereits Ende vergangener Woche im bayerischen Landshut ein 63 Jahre alter früherer Polizist und dessen 55 Jahre alte Ehefrau festgenommen worden sind. Sie sollen zumindest für einen Teil der Drohmails verantwortlich sein.

Gegen das Paar wird nach Angaben der Behörden wegen des Verdachts der Bedrohung, der Volksverhetzung, der verfassungsfeindlichen Verunglimpfung von Verfassungsorganen sowie der Beleidigung ermittelt. Nach Angaben der Welt sei der Ex-Polizist bereits früher wegen rechtsmotivierter Straftaten aufgefallen. Da keine Voraussetzungen für einen Haftbefehl vorlägen, seien die beiden Tatverdächtigen wieder freigelassen worden. Die Auswertung der bei der Durchsuchung beschlagnahmten Datenträger sowie die weiteren Ermittlungen dauerten noch an. Dem Ehepaar werde vorgeworfen, im Juli sechs Drohschreiben versendet zu haben. Ob die Beschuldigten auch für weitere „NSU 2.0“-Drohmails verantwortlich sein könnten und ob Kontakt zu hessischen Polizeibeamten bestand, müßten erst die weiteren Ermittlungen zeigen. Der Mann bestreitet, derartige Mails versendet zu haben. Medienberichten zufolge vermute er, daß jemand bewußt eine falsche Spur gelegt habe. Es stellt sich zudem die Frage, wie die bereits Monate zurückliegenden ersten „hessischen“ Drohmails und die zweite, weitaus größere Welle an Mails der vergangenen Wochen und Tage zusammenpassen. Experten vermuten, daß hier Nachahmungstäter am Werk sind. 

„Die ganze Situation ist dazu angetan, daß sich eine Reihe von Trittbrettfahrern motiviert fühlen könnte, auf den Zug aufzuspringen“, sagte die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg der Nachrichtenagentur dpa. Solche Trittbrettfahrer wollten dann zwar nicht entdeckt werden, aber mediale Aufmerksamkeit, erläuterte Bannenberg. „Sie wollen mitmischen in einer virulenten, medienrelevanten Aktion.“ Die Umsetzung etwa von Drohungen sei nicht das Ziel in solchen Fällen, sondern eben für Angst, Schrecken und Unruhe zu sorgen.

Diese Vermutung erklärt auch die Weigerung der für Terrorismus zuständigen Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, sich in den Fall der Drohmails einzuschalten und die Ermittlungen zu übernehmen. Die Behörde hat bereits mehrmals geprüft, ob sie zuständig ist. Doch da sie laut den gesetzlichen Vorgaben erst bei Gewalttaten und nicht schon bei Bedrohungen oder Beleidigungen eingreifen kann, sah sie bislang keinen Handlungsbedarf. Zumal anders als in der Berichterstattung teilweise suggeriert, die allermeisten persönlichen Daten, die von den Tätern in den Drohmails verwendet wurden, nicht aus Datenbanken von Behörden stammten, sondern aus öffentlich zugänglichen Quellen. Und selbst in den Fällen, in denen der Verdacht besteht, daß das Datensystem der hessischen Polizei angezapft wurde, habe nach Angaben von Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) bislang lediglich ein zeitlicher, jedoch kein kausaler Zusammenhang belegt werden können.