© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Auf dem Weg zurück zur Ur-Horde
Der Universalhistoriker Rolf Peter Sieferle erzählt 100.000 Jahre Umweltgeschichte
Dirk Glaser

Im Unterschied zu ihren nordamerikanischen Kollegen, die damit in der Zwischenkriegszeit begannen, haben sich deutsche Historiker kaum für das Verhältnis zwischen Mensch und Natur interessiert. In solcher Ignoranz wurden sie nur noch von den Soziologen übertroffen, die es bis in die 1980er schafften, die grundlegende Beziehung menschlicher Gesellschaften zur Natur aus ihren Forschungen weitgehend auszuklammern. In Jürgen Habermas’ den 68er-Kosmos bezaubernder „diskursethischer“ Sozialutopie geht es daher allein um normative Interaktionen zwischen Menschen, die sich wundersamerweise vollständig von der Natur „emanzipiert“ haben. In dieser Haltung paßte kein Blatt zwischen die sich gern „kritisch“ nennende Intelligenz und das von ihr geschmähte Establishment der bundesdeutschen Wirtschaftswunderrepublik. 

Man war sich überparteilich darin einig, die Natur vornehmlich als Objekt technisch-ökonomischer Ausbeutung zu betrachten und alle naturwüchsigen Lebensbedingungen umzuwälzen. Vor allem die fortschrittsgläubige Linke war seit Karl Marx davon überzeugt, daß die Erschließung der Springquellen des natürlichen Reichtums der Erde lediglich in den falschen Händen, denen der Kapitalisten, lag. Gehe sie nach der geglückten Weltrevolution in die des Proletariats über, dürfe weiter hemmungslos nach dem kapitalistischen Grundsatz der „absoluten Produktion“ und dem Mantra des grenzenlosen Wachstums gewirtschaftet werden. Erst mit den „Grenzen des Wachstums“ aufzeigenden Bericht des Club of Rome (1972), mit der „Ölkrise“ (1973), den Alarmmeldungen über Artensterben, Waldsterben, Luftverpestung und Meeresverschmutzung, dem Aufkommen der Umweltbewegung, entwickelte sich allmählich ein Bewußtsein von der prekären Naturabhängigkeit der den „Planeten plündernden“ (Herbert Gruhl, 1975) Industriegesellschaft.

Damit war die Bahn frei für Historiker, die sich der „Umweltgeschichte“ widmen wollten. Der junge Rolf Peter Sieferle (1949–2016), 1979 passenderweise über Karl Marx promoviert, zählte mit seinen Studien „Der unterirdische Wald“ (1982), die die Etablierung des Energieträgers Steinkohle untersucht,  und „Fortschrittsfeinde?“ (1984), die sich mit der breiten Phalanx der Opponenten gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart befaßt, zu den Pionieren dieser neuen Disziplin. Der er 1997 mit „Rückblick auf die Natur“ erstmals auch eine universalhistorische Perspektive eröffnete. Als Band 5 und 6 der Werkausgabe liegen die antiquarisch nur selten und teuer angebotenen „Fortschrittsfeinde?“ und der „Rückblick“ jetzt in wohlfeilen Neuausgaben vor.

Als Universalhistoriker backt Sieferle keine kleinen Brötchen. Schaut er doch im „Rückblick“ auf die „Geschichte des Menschen und seiner Umwelt“ adlergleich auf 100.000 Jahre herab. Ohne sich in Einzelheiten der Chronik dieser  komplexen Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur zu verlieren. Übersichtlich wird die Erzählung, weil er diesen scheinbar unvorstellbaren Zeitraum anhand der Geschichte der Energienutzung elegant in nur zwei Abschnitte unterteilt. Von der Steinzeit bis zum 18. Jahrhundert steht dem Menschen in seinem Überlebenskampf unmittelbar und ausschließlich die Sonne als Energiequelle zur Verfügung. Danach wird dieses Solarenergiesystem vom System der fossilen Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas abgelöst, dessen Ende heute zumindest in der Bundesrepublik Deutschland auf 2038 terminiert ist, wenn hierzulande die letzten Kohlekraftwerke „vom Netz gehen“ sollen.

Die von der Hand in den Mund lebenden Jäger und Sammler der mit dem Ende der letzten Eiszeit um 10.000 v. Chr. ausklingenden Altsteinzeit klinkten sich in den solaren Energiefluß ein, ohne sich um die Aufrechterhaltung und Beständigkeit des von ihm gelieferten pflanzlichen und tierischen Nahrungsangebots zu kümmern. Dementsprechend kannten die hochmobilen, „urkommunistischen“ Horden weder Vorratshaltung noch stabile Sozial- und Kulturformen. 

Auch die Objektivierung einer Tradition sei stark gehemmt worden. Wann immer sich Ansätze zu einer Struktur zeigten, konnten Dissidenten den Verband verlassen. Die egalitär-lockeren Kleingruppen brauchten also keine Fähigkeit zur Integration heterogener Elemente zu entwickeln. Daher rühre die einige zehntausend Jahre währende „Geschichtslosigkeit“, in der paläolithische Ur-Horden lebten: „Soziale Mobilität und Fluktuation machten jede kulturelle Kristallisation sehr schwer, wenn nicht unmöglich“.

In anderer Gewandung, aber im Kern nur leicht variiert, begegnet dieses Kulturmuster dem Leser wieder, wenn er Sieferles Analyse der Gesellschaft in der Schlußphase des fossilen Energiesystems erreicht. Der globalisierten Profitlogik gehorchend, die alles Wirkliche in Ware verwandelt, um „sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“ und „die ganz bürgerliche Gesellschaft in Unordnung“ zu bringen (Marx/Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, 1848), lösten sich in der  „Großen Transformation“ der Moderne alle Bestände in „Flüsse und Funktionen“ auf. Es gebe nichts Festes mehr, „alles ist flüchtig, vorläufig, abstrakt und bewegt sich unbekannten Horizonten entgegen“. Nichts könne in diesem dynamischen Gefüge mehr Sicherheit geben, da es an Rückzugspositionen und „stabilen Orten“ mangele.

Die Transformationsgesellschaft der Eigentumslosen sei daher überwiegend schon keine bürgerliche mehr, sondern eine proletarische. Ungeachtet der Versprechungen der liberaldemokratischen Ideologie, deren totalitäre Potentiale Sieferle hier früh markiert, erlange das Individuum keineswegs „Freiheit und Autonomie“. Vielmehr werde es unter „gewaltigem Konformitätsdruck“ seiner Identität beraubt, gleichgeschaltet und, um Sieferles Befund auf die prägnante  Formel Renaud Camus’ zu bringen, zum „ununterscheidbaren Menschenmaterial“ zugerichtet.

In seinem klugen Nachwort zum „Rückblick auf die Natur“ weist Frank Lisson darauf hin, daß Sieferle hier bereits den 2017 in seinen posthum veröffentlichten Reflexionen über „Das Migrationsproblem“ heller beleuchteten Zusammenhang erkennt zwischen neoliberaler Auflösung aller Dinge und Massenzuwanderung nach Europa. Denn es sei kein Zufall, daß es sogenannte Flüchtlinge in eben jene Länder ziehe, die wie die Bundesrepublik keine von einer festigenden Idee getragenen Staaten mehr seien. Die Migrationsströme flössen dorthin, wo „alles haltlos, beliebig, unbeständig, austauschbar, kurzlebig und also selber ‘flüchtig’ geworden ist, weil sich dort alles in ständiger Veränderung und Mobilität befindet“. Wie vor Jahrtausenden bei den nomadischen Ur-Horden, deren Rückkehr sich heute in den Attacken des gegenkulturellen Mobs zwischen Portland und Stuttgart anzukündigen scheint.

Wieder zurückblätternd von Sieferles Diagnose der anspringenden zweiten Globalisierung zu den Jägern und Sammlern, darf der Leser mit dem Autor darüber rätseln, welche Faktoren zum Verschwinden dieser primitiven, von keinen Energiesorgen geplagten Kulturstufe führten. Wissenschaftlich ist das bislang ungeklärt, fest steht nur, daß die Geschichte über sie hinwegging bis zum Ausbruch der „neolithischen Revolutionen“ um 6.000 v. Chr. Der Mensch wurde seßhaft, lernte Ackerbau und Viehzucht, stellte sich auf Vorratswirtschaft um, verwandelte Natur in Kulturlandschaft, baute größere Siedlungen und Städte, vermehrte sich. Verharrte aber weiterhin im Solarenergiesystem, das er jedoch durch biologische und mechanische Energieverwandler, Haustiere und Nutzpflanzen, Wind- und Wassermühlen, neu zu nutzen wußte.

Veränderte Naturbeziehungen bedingten auch Wandlungen kollektiver Mentalitäten. In Mittelalter und Früher Neuzeit entstanden stabile hochkulturelle Sozialstrukturen, feste Identitäten, orientierende Zuordnungen, spezifische, nationale Stile des Denkens und Verhaltens. Nur solche Kulturen, die der Abgrenzung fähig waren, hatten Bestand. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, obwohl diese Agrargesellschaften um 1750 ihre energetischen Ressourcen erschöpft hatten und mit ihrem kulturellen Kapital irreversibel in den Untergangsstrudel des Industriezeitalters gerieten. Vom vergeblichen Widerstand, den Romantiker, Maschinenstürmer, Heimatschützer und andere „konservative Revolutionäre“ gegen die „Große Transformation“ ins Werk setzten, erzählt Sieferles „Fortschrittsfeinde?“, dessen größter Vorzug es ist, die „reaktionäre Moderne“ nicht wie üblich mit dem Nationalsozialismus kurz geschlossen zu haben. Für diese magistrale Arbeit wie für den „Rückblick“ hat ein sprödes Lob aus dem Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen von 1986 unverändert Gültigkeit: „Nach der Lektüre versteht man vieles besser, was zur Zeit geschieht“.

Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. Landt Verlag, Berlin 2020, gebunden, 292 Seiten, 36 Euro

Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. Landt Verlag, Berlin 2020, gebunden, 496 Seiten, 44 Euro