© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Bevor die Invasoren kamen
Archäologische Funde Mittelamerikas: Die Große Landesausstellung Baden-Württembergs beschäftigt sich mit der Kultur der Azteken
Felix Dirsch

Europäische Eroberer mit Hernán Cortés an der Spitze betraten 1519 mittelamerikanischen Boden. Anläßlich der 500. Jährung dieses folgenreichen Ereignisses beschäftigt sich das völkerkundlich ausgerichtete Linden-Museum in Stuttgart mit Leben und Kultur der Azteken in Zeiten vor der Kolonialisierung durch Europäer.

Es ist nun wahrlich kein neues oder gar originelles Motiv für die Initiierung einer Ausstellung, daß man sich indigenen, vormodernen Kulturen möglichst ohne Voreingenommenheit nähern will. Zu den bereichernden Fragestellungen gehört auch die nach den gleichzeitigen europäischen Lebensweisen: Gab es nicht auch Vorzüge der außereuropäischen Kulturen? Im Hinblick auf die Azteken kommt man gelegentlich zu bejahenden Antworten, etwa im Kontext des Schulwesens und der Hygiene. Eines der Hintergrundnarrative lautet in diesem Kontext öfter: Natürliches Leben und natürliche Kultur werden durch „zivilisierte“ Eindringliche vernichtet. Diese Herangehensweise mag edel sein, sie führt zumeist aber nicht zum Ziel. 

In vielen Fällen wissen wir zu wenig über die ursprüngliche Lebensweise dieser Völker. Manches wurde von den Konquistadoren zerstört. Nur relativ wenige Überlieferungen aus vorspanischer Zeit sind erhalten geblieben. Es gibt sie noch, weil sie als Kuriositäten in die alte Welt verschifft wurden. Auch sprachliche Eigenheiten von damals sind meist nur rudimentär, überliefert. Sie wurden über viele Generationen weitergegeben, und heute, so scheint es, ist das Nahuatl – die Sprache der Azteken – beliebter denn je. Überhaupt kommt in der Präsentation schön zum Ausdruck, daß die alte Welt nur scheinbar versunken ist. Ein Filmbeitrag am Ende des Rundganges verdeutlicht, daß unzählige Traditionen im Alltagsleben noch gegenwärtig sind. Christliche Bräuche vermischen sich mit heidnischen. Wie sehr die Identität der heutigen Republik Mexiko auf der Grundlage seiner Vorfahren beruht, zeigt nicht zuletzt die Flagge des Landes: Ein Adler, der sich auf einem Kaktus festgekrallt hat, hält eine Schlange im Maul – eine Nachzeichnung der atztekischen Legende von der Gründung der Stadt Mexiko als Tenochtitlan.

Klare Gleiderung und  gute geführte Padagogik 

Um so wichtiger ist die aktuelle Ausstellung. Sie setzt es sich in besonderer Weise zum Ziel, in den letzten Jahrzehnten gewonnenes Wissen über die größtenteils versunkene Kultur einem breiteren Publikum näherzubringen. So darf am Anfang des Rundganges eine Karte nicht fehlen, die das Herrschaftsgebiet der Azteken verdeutlicht. Das vielleicht wichtigste Projekt seit über vier Jahrzehnten ist schnell benannt: In der Mitte der alten Hauptstadt Tenochtitlan, die in einer sumpfigen Gegend errichtet worden war, stand der alte Templo Mayor, der seit 1978 rekonstruiert wird. In dessen oberen Bereichen haben sich zwei weitere Tempel befunden, der eine dem Regen- und der andere dem Kriegsgott gewidmet. Wenigstens die Grundmauern konnten ausgegraben werden. Im Rahmen dieses Projekts fand man auch die Figur des Todesgottes Mictlantecuhtli, die jedoch erst in aufwendiger Arbeit wieder zusammengesetzt werden mußte. Der Tempelbezirk markierte die Achse der Welt. Etliche Tempel prägten damals das Stadtbild. Den nachgebauten Herrscherpalast des letztens gewählten aztekischen Kaisers Moctezuma, des berühmtesten in einer langen Reihe von Regenten, durchschreitet der Ausstellungsbesucher, ehe er zum gelungenen Modellbau aufschaut.

Daneben fallen weitere hochkarätige Exponate auf. So sind außer einer kostbaren Grünsteinfigur auch zwei einzigartige Federschilde zu bestaunen, die zur Maskerade dienten. Diese Artefakte kamen bald nach dem Sieg der Eroberer nach Europa. Die Ausstellung gibt hervorragende Einblicke in die wichtigsten Bereiche aztekischen Lebens: Staat, Religion, Wissenschaft, Landwirtschaft und Handel. Auch Geographie, Ökologie, Pflanzen- und Tierwelt werden nicht ausgeklammert. Ein wichtiger Sektor darf natürlich nicht fehlen, dem wir eine Bereicherung unseres eigenen Lebens verdanken: Lebensmittel wie Tomaten, Mais, Kakao, Chili und anderes sind aus europäischen und anderen Küchen nicht mehr wegzudenken. Auch Landwirtschaft und Handelssystem waren schon in alter Zeit ausgeklügelt. 

Zu den erstaunlichsten Gegenständen zählt der in der Ausstellung in einer Replik vorhandene Sonnenstein, der gelegentlich irrtümlich als Stein-Kalender bezeichnet wird. Die Scheibe zeigt die vier Sonnen- oder Weltzeitalter, die der Epoche der Azteken vorausgegangen sein sollen. Ihre Symbole sind Teil komplizierterer mythologischer und astrologischer Zusammenhänge. So blicken im äußersten Ring aus den Mäulern zweier Schlangen die Gesichter zweier Götter: Xiuhtecuhtli auf der einen Seite und Tonatiuh auf der anderen.

Natürlich ist der vielschichtige Götterkosmos der Mexica breit thematisiert. Ein eindrucksvolles Stück ist die Figur des Gottes Quetzalcoatls, der als Skelett in Form einer Grünstein-Skulptur mit einer Koralleneinlage an Mund, Nase und Wangen dargestellt wird. Heerscharen an Spezialisten haben sich allein an den Sternensymbolen und an den Kalenderzeichen auf den Kopfriemen abgearbeitet. Die Bedeutung dieses Gottes zeigt sich auch darin, daß er in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt. Aber auch die Figuren von Mictlantecuhtli und Xipe Totec, an denen man vorbeischreitet, lohnen einer näheren Betrachtung.

Die Götter durchwalteten den Alltag in allen Facetten. Wie in vielen vormodernen Kulturen hatte der strikte hierarchische Aufbau der Gesellschaft die Konsequenz, daß manche Schichten – etwa der Adel – den Göttern näherstanden als andere, was solch privilegierten Gruppen Vorrechte einbrachte. Aus den Vorstellungen von den Gottheiten lassen sich diverse Rituale und Zeremonien ableiten. Der Mensch steht in der Schuld der Götter. Um diese abzutragen, sind Opfer aller Art nötig, darunter auch die von Menschen – so nicht nur die Sicht der Azteken.

Ein großer Vorteil der Stuttgarter Ausstellung ist ihre klare Gliederung und ihre Beschränkung auf wichtige Lebensbereiche, weiter die gute pädagogische Vermittlung. Ohne Zusammenarbeit mit anderen Institutionen wie dem Nationaal Museum van Wereldculturen, Niederlande, aber natürlich auch mit mexikanischen Einrichtungen wäre das kulturelle Großereignis nicht zu realisieren gewesen. Nur so war es möglich, eine weitere Brücke zwischen Deutschland und Mexiko zu schlagen.

Die Azteken-Ausstellung im Stuttgarter Linden-Museum, Hegelplatz 1, ist noch bis zum 16. August täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 20 Uhr, zu sehen.

Der Katalog mit 360 Seiten kostet 29,90 Euro.  www.lindenmuseum.de