© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Der Flaneur
A wie Auswandern
Gil Barkei

Vor dem verrauchten Sportwetten-Café sitzen die üblichen Verdächtigen: ältere biertrinkende deutsche Männer und junge, meist ausländische Colatrinker. Dann plötzlich ein bekanntes Gesicht: ein alter deutsch-polnischer Freund aus der Schulzeit.

„Lange nicht gesehen“, sage ich verwundert. „Ich dachte, du wolltest zu deiner Schwester nach Neuseeland auswandern.“ „Das hat doch nicht funktioniert, die sind nicht so locker wie hier“, bekomme ich als Antwort, und ich muß wieder an den ganzen Terz und die damit verbundenen Kosten damals denken. Seine Schwester mußte einen Englischtest bestehen, erst einen Job finden und hin und her fliegen, bis alles geklappt hatte.

Allein vier Bekannte hat es in die Schweiz verschlagen.

Von ähnlichen Erfahrungen hatte mir erst vor wenigen Tagen eine Studienfreundin erzählt, die nach Australien auswandern will, weil ihr Verlobter dort herkommt. Ein Partnervisum koste wohl aber „mehrere tausend Euro mit dem ganzen Papierkram“, und die prüften dort „richtig hart“, warum sie immer „eine Krise“ bekomme, wenn sie hier die Nachrichten sehe.

„Und wie geht’s den anderen polnischen Jungs? Noch Kontakt?“ wende ich mich wieder meinem Kumpel zu. „Ach, gut, Jakob ist mit Frau und Kind nach Polen gezogen. Micha auch.“ Reflexartig gehen mir all diejenigen durch den Kopf, die in den vergangenen Jahren Deutschland verlassen haben. Allein vier Bekannte – einen Arzt, eine Anwältin, eine Bankerin und einen Berater – hat es in die Schweiz verschlagen.

Wenn man eine gute deutsche Ausbildung vorweisen kann, bekomme man im Ausland sofort etwas, hatte mir bereits ein ehemaliger Bundeswehrkamerad berichtet, der mit Kanada geliebäugelt hatte, dann aber eine Beamtenstelle in Berlin ergattern konnte.

Mir kommt unweigerlich der frühere türkische Nachbarsjunge in den Sinn, der schon vor Jahren von seinen Rückkehrplänen in die Türkei erzählte: „Hier geht doch alles den Bach runter.“ Rückkehrüberlegungen, von denen die befreundete ungarische Mathematikerin, die erst vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen ist, ebenfalls spricht.