© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Ohne Abstand, aber friedlich
Corona: Zehntausende demonstrieren in Berlin gegen die Politik der Bundesregierung / Minister fordert härtere Strafen bei Verstößen
Ronald Berthold

Der Streit um die große Berliner Corona-Demonstration vom Sonnabend überlagert die Debatten um eine mögliche zweite Welle und einen erneuten Lockdown der deutschen Wirtschaft. Dabei bleibt die Zahl der aktiven Covid-19-Infektionen auf niedrigem Niveau. Am Montag sank sie nach Angaben des Robert-Koch-Instituts auf 7.754. Das sind 0,009 Prozent der deutschen Bevölkerung. Die Gesamtzahl aller Infektionen liegt demnach bei bislang 210.402, womit rund 193.500 Personen als genesen gelten.

Viele Politiker warnen hingegen vor einer zweiten Welle und verweisen auf die steigenden Neuinfektionen. Am Samstag hatte die Zahl der registrierten Neuinfektionen in Deutschland mit 955 den Höchststand für Juli erreicht. Bis Mitte Juli hatte die Zahl wochenlang meist bei unter 500 gelegen. Auf dem absoluten Höhepunkt Anfang April waren rund 60.000 Menschen gleichzeitig erkrankt – auch das waren jedoch nur 0,07 Prozent aller Einwohner.

Zehntausende waren auch am Wochenende in Berlin auf den Beinen, um gegen die Corona-Maßnahmen der Politik zu protestieren. Zu der bundesweiten Demo „Das Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“ hatte „Querdenken 711“ aufgerufen, eine überparteiliche Initiative des Stuttgarter IT-Unternehmers Michael Ballweg. Während Polizei und Medien von rund 20.000 Teilnehmern sprachen, wollten die Veranstalter 800.000 bis 1,3 Millionen gezählt haben. Realistisch erscheinen Zahlen von mehreren zehntausend.

AfD-Chef Chrupalla verteidigt Demonstranten

Die Stimmung blieb bei der Kundgebung durchgehend friedlich. Aufgrund von Verstößen gegen die Versammlungsauflagen – so verzichteten die meisten Teilnehmer auf das Tragen des Mund-Nase-Schutzes – löste die Polizei die Versammlung letztlich auf. Im Anschluß kam es zu unübersichtlichen Situationen, da sich Tausende Personen weigerten, den Ort zu verlassen. Die Maßnahmen der Polizei dauerten bis in die späten Abendstunden an.

Als Konsequenz aus der Corona-Demo fordern nun erste Politiker, derartige Demonstrationen zu verbieten. CDU-Innenexperte Armin Schuster erklärte es für „verhältnismäßig, solche Versammlungen nur noch unter sehr viel strengeren Auflagen oder gar nicht mehr zu genehmigen“. AfD-Chef Tino Chrupalla verteidigte dagegen die Demonstranten. Die Veranstaltung sei friedlich gewesen, die Leute seien für ihre Grund- und Bürgerrechte auf die Straße gegangen. „Und das kann man nur begrüßen.“

Indes hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) „gravierende Folgen“ für Menschen angekündigt, die sich nicht an die vorgeschriebenen Hygiene-maßnahmen halten. Der Politiker fordert härtere Strafen bei Verstößen gegen Corona-Regeln. Er berief sich dabei auf „steigende Infektionszahlen“ und einen „gerade beginnenden Aufschwung“. Kurz davor war bekanntgeworden, daß das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland im 2. Quartal 2020 gegenüber dem 1. Quartal mit 10,1 Prozent so stark eingebrochen ist wie seit der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht mehr.

Während des Lockdowns hatte Altmaier bereits versprochen, daß durch die Corona-Maßnahmen „kein einziger Arbeitsplatz verlorengeht“. Tatsächlich lag die Arbeitslosigkeit im Juli um 635.000 höher als im Vorjahresmonat. Das ergibt umgerechnet einen Anstieg um 28,6 Prozent. Weitere 6,83 Millionen Menschen befinden sich in Kurzarbeit: 6,7 Millionen mehr als vor einem Jahr – eine Zunahme um 4.620 Prozent. Zustimmung erhält Altmaier vom SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach: „Sonst schädigen einige wenige, die rücksichtslos sind, alle anderen.“ Die verschärften Töne aus der Politik versetzen die Unternehmen in Sorge vor einem zweiten Lockdown. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sagte der ARD-„Tagesschau“ auf eine entsprechende Frage, daß „erneute Maßnahmen, Schließungen von Geschäften und Unternehmen, die Wirtschaft natürlich hart treffen“ würden. Dies wäre „wirtschaftlich schädlicher“ als der erste Lockdown, „da viele Unternehmen keine Rücklagen mehr haben“.

Auch für die Restaurants und Hotels wäre eine zweite Zwangspause tödlich. Zahlreiche Betriebe kämpfen bereits jetzt um ihre Existenz. „Ein zweiter Lockdown würde die Situation dramatisch verschlimmern“, warnt Ingrid Hartges vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband. Deswegen, so sagte sie gegenüber der ARD, müßten die Hygienemaßnahmen konsequent umgesetzt werden.

Einen erneuten Lockdown fürchtet auch der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE). Viele Geschäfte konnten schon die erste Zwangsschließung kaum verkraften, sagt HDE-Präsident Josef Sanktjohanser. Durch die bisher vom Staat durchgesetzten Regeln seien deutschlandweit 50.000 Handelsstandorte in ihrer Existenz bedroht. Der Verlust jener Geschäfte, die keine Lebensmittel verkaufen, belaufe sich bereits jetzt auf 40 Milliarden Euro. Auch nach der Wiedereröffnung fällt der Umsatz weiter. Im Juni betrug das Minus im Vergleich zum Mai noch einmal 1,6 Prozent. Das Problem: Viele Kunden verspüren wenig Lust auf einen Einkaufsbummel mit Maske. Dies spielt vor allem international aufgestellten Unternehmen wie Amazon in die Hände. Der Onlinehandel boomt.

Während offen über eine erneute Lahmlegung der Unternehmen diskutiert wird, werden die Bundesländer den Schulbetrieb nach den Sommerferien wieder einführen. „Weitere Unterrichtsausfallzeiten sind nicht zu verkraften“, argumentiert Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD). Den Anfang machte am Montag Mecklenburg-Vorpommern. Die Lehrerverbände protestieren. Sie wollen, daß die „Beteiligten einem nicht noch größeren Risiko ausgesetzt werden“. Als erste Bundesländer führen Nordrhein-Westfalen und Hamburg ab dem Ferienende bis zum 31. August eine Maskenpflicht für die Schüler ein. Bislang galt lediglich ein „Maskengebot“ etwa in den Fluren und auf dem Schulhof. Andere Länder wie Berlin, Bayern und Baden-Württemberg kündigten bereits ähnliche Schritte an.

Reiserückkehrer sollen gestestet werden

Auch die Bundesregierung setzt derweil die nächste Anti-Corona-Maßnahme um. Für die kommende Woche hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verpflichtende Tests auf das Virus für Reiserückkehrer aus 130 Staaten angekündigt. Bisher sind diese freiwillig. Der neue Schritt bedeutet einen hohen zeitlichen und medizinischen Aufwand. Allein in der vergangenen Woche waren auf deutschen Flughäfen 120.000 Menschen aus sogenannten „Risiko-Ländern“ angekommen. Bis ein Testergebnis vorliegt, so Spahn, müssen sich die Menschen in häusliche Quarantäne begeben. Die Ferien werden sich für diese Touristen voraussichtlich um Tage, wenn nicht gar um Wochen verlängern.

Völlig unklar ist dagegen, wie Urlauber, die mit dem Auto oder der Bahn nach Deutschland zurückkommen, untersucht werden sollen. Zwangstests an den Grenzen würden den Zug- und Autoverkehr komplett lahmlegen. Ausgeschlossen sind sie deshalb aber nicht.





Linke randalieren in Berlin-Neukölln

Linksextreme haben am Samstag während einer Demonstration im Berliner Stadtteil Neukölln Polizisten angegriffen und vier von ihnen verletzt. Drei Beamte mußten mit Gesichtsverletzungen durch Glassplitter in ein Krankenhaus eingeliefert werden, teilte die Polizei mit. Der vierte wurde ambulant behandelt. Die Sicherheitskräfte wurden von Angreifern umzingelt und mit Steinen beworfen. Die teilweise vermummten Täter errichteten Barrikaden, zündeten Pyrotechnik und beschädigten Einsatzwagen. Die Attacken kamen von Demonstranten einer Kundgebung unter dem Motto „Gegen Räumungen, Abschiebungen und Faschisierung“. An der Versammlung nahmen laut Polizei rund 2.500 Personen teil. Hintergrund ist die geplante Räumung der Kneipe „Syndikat“. Das Lokal gilt als Treffpunkt der linken Szene. Den Betreibern wurde nach 33 Jahren vom Hauseigentümer gekündigt. Ein Video zeigt, wie ein Stein die Scheibe eines Streifenwagens durchschlägt. Den darin sitzenden Beamten gelingt es, weiteren Angriffen zu entkommen. Erst durch Verstärkung konnte die Polizei die Situation unter Kontrolle bringen. (ag)